Die Fahrt des Leviathan
hätte Kolowrath genötigt, unverrichteter Dinge wieder abzureisen. Der Österreicher war ihm unheimlich. Er empfand Unbehagen, wenn er nur an diesen Mann dachte.
Vor der Wandkarte hielt Healey inne. Nach kurzem Überlegen zog er ein blaues Fähnchen heraus, das eine Niederlage des Südens bei einem irrelevanten Scharmützel irgendwo im fernen New-Mexico-Territorium markierte. Er versetzte es nach Maryland, an den ungefähren Ort der Schlacht am Antietam. Aus Gründen, die für immer ein Geheimnis bleiben würden, hatte es sein verstorbener Vorgänger unterlassen, das bislang letzte große Aufeinanderprallen von Nord und Süd zu kennzeichnen.
Healey richtete das Fähnchen so aus, dass es im selben schrägen Winkel wie die übrigen aufragte. Dann wandte er der Karte den Rücken und setzte seine ruhelose Wanderung durch den Raum fort. Die diffuse Beunruhigung wollte einfach nicht weichen. Schließlich gelang es ihm, unter Einsatz seines Verstandes die verstörend fremdartigen Gefühle zumindest von der Oberfläche seines Bewusstseins zu verdrängen, indem er sich nachdrücklich vor Augen hielt, wie bedeutungslos dieser Krieg und das Schicksal des Südens für ihn waren und dass ihm folglich auch nichts davon Sorgen bereiten musste.
Etwas anderes hingegen bedeutete ihm unschätzbar viel. Er ging hinüber zu seinem Schreibtisch, der mit Dutzenden von Büchern bedeckt war, und nahm sich den zuoberst liegenden aufgeschlagenen Band vor, um dort weiterzumachen, wo ihn der Telegrammbote unterbrochen hatte.
Die Sache war wie verhext. Er wusste noch genau, dass Amalie von Rheine sich und ihre Begleiterin vorgestellt hatte. Doch er konnte sich nur noch an den Namen der schönen jungen Frau erinnern, alles andere war ausgelöscht. Die ungewohnte Wirkung des Alkohols hatte sein Erinnerungsvermögen ausgerechnet dort vernebelt, wo er es am allerwenigsten brauchen konnte. Um Fräulein von Rheine dennoch ausfindig zu machen, hatte er sich die Adressbücher der gesamten Provinz aus der öffentlichen Bibliothek ausgeliehen und durchforstete sie nun. In allen denkbaren Schreibweisen hielt er systematisch Ausschau nach dem Namen von Rheine, aber seine Suche war bisher fruchtlos geblieben.
Mit einem bedrückten Seufzer schloss Healey das Buch und legte es beiseite. In Friedrichsburg schien Amalie von Rheine nicht zu leben. Sein Mut sank wieder ein wenig mehr. Aber aufgeben wollte er wegen dieser erneuten Enttäuschung auf gar keinen Fall.
Healey nahm das Adressbuch von Borussia zur Hand und vertiefte sich in die Einträge. Danach wollte er sich die Verzeichnisse von Walnußhain, Königsbaum, Sechs-und-Neunzig, Kingston und Gründorf vornehmen.
Fräulein von Rheine würde bestimmt keinen Mann schätzen, der beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten kapitulierte. Da war er sich ganz gewiss.
5. November
In den zehn Tagen seines Aufenthalts in Karolina hatte König Wilhelm vier Garnisonen inspiziert, drei Denkmäler, eine Schule und eine Brücke eingeweiht, einer Straße den Namen eines seiner Vorfahren verliehen, das letzte Teilstück der Eisenbahnstrecke zwischen Oranienburg und Jamasse eröffnet und insgesamt gut fünf Dutzend Orden und kleinere Adelstitel verliehen. Nun reiste er heim.
Auf der Wallkrone der Bastion Derfflinger stand Major Pfeyfer neben einem mächtigen achtzölligen Geschütz und verfolgte, wie die Gedeckte Korvette
Gazelle
langsam an der Festung vorüberglitt. Er empfand es als etwas würdelos, dass die Segel nicht gesetzt waren; der Anblick der nackten Masten erinnerte ihn an kahle Bäume. Auch die aus dem hohen Schornstein quellende schwarze Rauchwolke, die das Kriegsschiff wie einen langen Schweif hinter sich herzog, missfiel ihm. Sie beeinträchtigte in seinen Augen die Gravität des Ereignisses. Die besondere Aura der Monarchie sollte seiner Überzeugung nach nicht durch den Schmutz und Lärm der Dampfmaschinen eines vulgären Zeitalters verunziert werden, das Traditionen so gering achtete. Doch gab er sich keinerlei Illusionen darüber hin, dass er mit dieser Ansicht zu einer dahinschwindenden Minderheit zählte.
Trotz der kleinen Beeinträchtigungen war das Schiff eine majestätische Erscheinung. Der schlanke schwarz-weiße Rumpf durchschnitt glatt wie ein Messer die ruhig gekräuselten Wellen. Am Großmast wehte die purpurne Königsstandarte mit dem Eisernen Kreuz und zeigte, dass sich der preußische Herrscher an Bord befand. Ein Schwarm festlich beflaggter kleiner Segelboote und Yachten
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