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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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erfasste sie, wusste dann aber augenscheinlich nicht weiter und suchte nach den passenden Worten für diese Situation.
    »Wollen Sie es sich zur Angewohnheit machen, meine Hand festzuhalten?«, neckte die Lehrerin ihn, als er nach einigen Sekunden immer noch regungslos verharrte.
    Das Gesicht des Doktors rötete sich leicht. »Ich bitte sehr um Verzeihung«, sagte er peinlich berührt und deutete formvollendet einen Kuss auf den Handrücken an. »Aber ich habe seit den Tagen meines Tanzunterrichts keinen Handkuss mehr gegeben und war ein wenig unsicher. Ich bin äußerst erfreut, Sie wiederzusehen, Fräulein von Rheine. Ich – ich hatte Sie wirklich nicht erwartet.«
    »Nun, nachdem unsere erste Begegnung ein so abruptes Ende fand, dachte ich, dass wir unsere Unterhaltung weiterführen sollten.«
    »Ich kann gar nicht fassen, dass Sie sich der Mühe unterzogen haben, mich aufzufinden«, sagte der Arzt mit ungläubigem Staunen.
    »Eine besondere Mühe war es eigentlich nicht«, eröffnete ihm Amalie. »Sie stehen im Adressbuch.«
    »Sie hingegen nicht, wie ich zu meinem Bedauern feststellen musste.«
    »Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ich erst seit einer Woche in Karolina bin. Aber es ist äußerst schmeichelhaft zu wissen, dass Sie versucht haben, mich ausfindig zu machen, mein lieber Doktor Täubrich.«
    Der Arzt wurde erneut rot und musste erkennbar einen Kloß im Hals hinunterschlucken, doch zugleich lächelte er aufrichtig erfreut.
    Amalie schaute aus dem Fenster und sah die Bucht von Friedrichsburg, die weit ausgebreitet im schönsten Herbstlicht glitzerte und in einer dunstverhangenen Ferne auf den Ozean traf. »Sie haben so sehnsüchtig dort hinausgeblickt … Verraten Sie mir, was Ihnen dabei durch den Kopf ging, dass Sie die Welt um sich herum so vollkommen vergaßen?«
    »Ach, ich musste daran denken, dass es bald Zeit für mich wird, mein Segelboot einzumotten«, antwortete Täubrich melancholisch. »Der November kommt, die Segelsaison neigt sich dem Ende entgegen. Das ist jedes Mal recht traurig.«
    »Sie besitzen ein Segelboot?«
    »Nur ein kleines, geerbtes. Beileibe nichts Besonderes«, schränkte der Doktor bescheiden ein. »Wann immer meine Zeit und das Wetter es gestatten, fahre ich hinaus. Schätzen Sie das Segeln denn auch?«
    »Oh, das ist schwer zu sagen, da ich es noch nie versucht habe. Aber vielleicht könnten Sie mich ja einmal mitnehmen, damit ich es herausfinde?«, fragte Amalie und bedachte Täubrich mit einem geschickt platzierten Augenaufschlag.
    Der Arzt nickte sogleich eifrig. »Das wird mir ein Vergnügen sein, Fräulein von Rheine. Möchten Sie mich beim Absegeln, der letzten Fahrt für dieses Jahr, begleiten?«
    »Das wiederum wird mir ein Vergnügen sein, Herr Doktor Täubrich. Umso mehr, da auf dem Wasser die Gefahr gering ist, dass Sie erneut von einem plötzlich auftauchenden Offizier fortgezerrt werden.«
     
    * * *
     
    Nachdenklich faltete Healey das Telegramm wieder zusammen. Er trat vom Fenster zurück, wo er im warmen Schein der Nachmittagssonne die Nachricht gelesen hatte, die ihm kurz zuvor von einem Boten des Telegraphenamtes überbracht worden war, und ging grübelnd im Büro auf und ab.
    Die Mitteilung aus Richmond bestand nur aus wenigen Worten:
Charles
Beaulieu eintrifft 6. November mit Zug aus Fayetteville. Empfehlung an Gast aus Wien.
Aber schon diese knappe Botschaft verriet, dass man in der Hauptstadt einiges Interesse daran hatte, die Absichten des aus dem Nichts erschienenen Österreichers genauer zu ergründen. Beaulieu war nicht irgendwer, sondern übte als enger Berater von Präsident Jefferson Davis beträchtlichen Einfluss in der konföderierten Regierung aus. Ein mächtiger Mann, Besitzer bedeutender Plantagen, dazu einer der entschiedensten Fürsprecher der Sezession.
    Dass Beaulieu persönlich nach Friedrichsburg kam, ließ erahnen, welche Bedeutung man in Richmond dieser Angelegenheit beimaß. Oder auch nur, dass die Konföderation inzwischen nach jedem Strohhalm griff, der in ihre Reichweite kam. Beide Möglichkeiten hielt Healey für gleichermaßen wahrscheinlich.
    Er war besorgt. Das alleine war für Healey schon Anlass zur Verwunderung über sich selbst, denn für gewöhnlich ließ seine von resignierter Niedergeschlagenheit und Gleichgültigkeit dominierte Seelenverfassung gar nicht zu, dass er sich Gedanken über das Wohl und Wehe der Welt machte. Dennoch wäre es Healey weit lieber gewesen, eine abschlägige Antwort aus Richmond

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