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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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die Kiawa-Insel unser Ziel. Alsdann, wie bringe ich uns dorthin?«
    Täubrich deutete auf die sich flach dahinziehende, mit niedrigen Gehölzen bewachsene Küste. »Wir halten uns zunächst immer vor der Morris-Insel, Kurs Südwest. Es ist ganz einfach, Sie brauchen das Ruder nur ein Stückchen nach links zu bewegen«, erklärte er. Um beim Steuern gegen Wind und Strömung behilflich zu sein, umfasste er die Ruderpinne. Ganz und gar nicht zufällig berührten dabei plötzlich Amalies Finger seine Hand.
    Keiner von beiden schenkte der Korvette
Gazelle,
die auf den Horizont zuhielt und immer weiter schrumpfte, noch die geringste Beachtung.

Washington
    »General McClellan ist entweder ein Verräter oder vollkommen unfähig«, urteilte Edwin Stanton harsch.
    Der Kriegsminister, der mit seinem langen Bart und der kleinen Brille einem Collegeprofessor für alte Sprachen weit mehr denn einem Politiker ähnelte, las noch einmal die Depesche, die eine Stunde zuvor mit einem Meldereiter im Weißen Haus eingetroffen war. In schon beleidigend knappen Worten wies darin der General die dringende Aufforderung des Präsidenten zurück, nach der erfolgreichen Überquerung des Potomac nun endlich die Rebellen zur Schlacht zu stellen. Stattdessen verwies er auf die vorgebliche Notwendigkeit, seine Streitmacht zunächst umorganisieren zu müssen, beklagte sich über die unzureichende Anzahl von Fuhrwerken, die ihm zur Verfügung standen, und verlangte zusätzliche Truppen.
    »Unfähig oder ein Verräter. Jede andere Erklärung scheidet aus«, schnaubte Stanton aufgebracht.
    Abraham Lincoln, der am Fenster seines Arbeitszimmers stand und versonnen in den regenverhangenen Garten hinausblickte, seufzte bekümmert. Er zupfte ein wenig an der schwarzen Klappe, die sein rechtes Auge verdeckte; jedes Mal, wenn er niedergeschlagen war, erfüllte ein schreckliches Jucken die leere Augenhöhle. Dann wandte er sich seinem Kriegsminister zu. »Ich bin es leid, mit einem stumpfen Bohrer hartes Holz bearbeiten zu müssen«, sagte er leise. »Und die Nation ist es gleichfalls leid. Sie hat es uns bei den jüngsten Wahlen zum Kongress zu verstehen gegeben.«
    Stanton wusste, was Lincoln meinte. Die Republikanische Partei des Präsidenten hatte ihre Mehrheit zwar verteidigen können, aber empfindliche Verluste zugunsten der Demokraten hinnehmen müssen. Obgleich selbst Demokrat, konnte Stanton über diese Zugewinne keine Freude empfinden. Im Gegensatz zu den meisten seiner Parteifreunde lehnte er die Wiederherstellung der alten Union durch einen Kompromissfrieden mit dem Süden strikt ab.
    Er wollte die Sklavenhalter, die er zutiefst verabscheute, unterworfen und für alle Zeiten entmachtet sehen. Allein der Präsident gewährleistete eine Fortsetzung des Krieges. Daher konnte Stanton keine Schwächung von Lincolns Position dulden.
    »Einen Krieg, der sich ergebnislos dahinschleppt, lieben die Menschen so wenig wie einen, in dem ein Blutbad auf das nächste folgt. Was ich brauche, ist ein Mann, der uns beides erspart«, befand Lincoln. »Was immer seine Beweggründe sein mögen, McClellan hat jedenfalls durch sein Verhalten ein ums andere Mal bewiesen, dass er nicht dieser Mann ist. Ich werde ihn daher seines Kommandos entheben.«
    »Und unter der Anklage des Verrats und der Befehlsverweigerung vor Gericht stellen lassen, Mr. President«, ergänzte der Kriegsminister.
    Doch davon wollte Lincoln nichts wissen. »Man würde mir nachsagen, mich auf diesem Wege eines führenden Kopfes meiner politischen Gegner zu entledigen. Nicht wenige Menschen würden darin nur einen Beweis für meine diktatorischen Ambitionen erkennen«, gab er zu bedenken. »Nein, ich muss McClellan unbehelligt lassen. Aber den Oberbefehl über die Potomac-Armee kann ich ihm nehmen. An seine Stelle gehört ein General, der handelt, kämpft und siegt.«
    »Und wer ist dieser General, Mr. President?«, fragte Stanton skeptisch.
    Lincoln legte die Stirn in tiefe Falten. »Das weiß ich noch nicht. Aber ich bete zu Gott, dass wir ihn schnell finden.«

6. November
    »Ich danke Ihnen für diese erhellenden Einblicke in die hiesigen Umstände«, sagte der Kronprinz, nachdem Pfeyfer seinen Vortrag abgeschlossen hatte. »Sie haben den Kern eines jeden Aspekts so klar herausgearbeitet, wie ich es mir nur wünschen konnte. An Ihrer Diktion sollte sich so mancher Generalstabsoffizier ein Beispiel nehmen.«
    »Das Lob Eurer Hoheit ehrt mich sehr. Doch habe ich nur Bericht erstattet, wie es meinem

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