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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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zum Nächstsitzenden zu wahren.
    Rebekka hielt auf einen Tisch am Rande des Saals zu, dicht bei der Marmorbüste Schillers, die aus einer Wandnische auf die Lesenden hinabblickte. Dort saß Amalie von Rheine mit einem Stapel schwergewichtiger Bücher. In einen der dicken Bände war sie gerade so vertieft, dass sie überhaupt nicht merkte, wie Rebekka vor sie trat. Erst als die Direktorin sich leise räusperte, zuckte sie überrascht zusammen.
    »Himmel! Sie haben mich erschreckt!«, keuchte Amalie vorwurfsvoll.
    »Das tut mir sehr leid, es war nicht meine Absicht«, entschuldigte sich Rebekka. »Sagen Sie, haben Sie sich etwa durch alle diese Wälzer gekämpft?«
    Amalie nickte seufzend. »Gesetze, Dienstvorschriften, Verordnungen, selbst Gerichtsentscheidungen. Ich habe mir stundenlang die grässlichen Sprachungetüme der Juristen angetan, nur um meine Befürchtungen bestätigt zu finden – es wurde kein Schlupfloch gelassen. Entweder wir sind Lehrerinnen oder verheiratet. Beides schließt sich gegenseitig aus, wie man die Sache auch dreht und wendet.«
    Frustriert klappte sie das Buch zu und warf es zu den anderen auf den Stapel. »Kann man das glauben? Was für eine idiotische Regelung!«
    Die Männer an den umliegenden Tischen blickten enerviert auf; sie fühlten sich unverkennbar gestört, konnten sich jedoch auch nicht dazu durchringen, ihren Unmut gegenüber einer schönen jungen Frau zum Ausdruck zu bringen. Also schwiegen sie. Einige versuchten, durch mahnende Mienen auf das Fehlverhalten hinzuweisen. Ihnen war kein Erfolg beschieden, da Amalie nicht einmal in ihre Richtung sah.
    »Ich hatte es Ihnen ja gesagt«, erinnerte Rebekka die Lehrerin. »Welchen Ausweg Sie letztlich auch wählen, Sie müssen auf jeden Fall auf etwas verzichten, das Ihnen teuer ist. Und gleichgültig, wie Ihre Entscheidung ausfällt: Sie werden immer mit dem Zweifel leben, ob Ihre Wahl richtig war.«
    Amalie sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch; der scharfe Knall hallte mehrfach von der Kuppeldecke wider. »Verflixt, ich will mich aber nicht entscheiden müssen! Wer hat sich diesen Mist bloß ausgedacht!«, rief sie aufgebracht aus.
    »Ich weiß es nicht. Aber da wir ja schon einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden haben, könnten wir die Frage ja zur öffentlichen Diskussion stellen«, meinte Rebekka grinsend und deutete mit einer leichten Kopfbewegung neben sich.
    Amalie schaute sich um und musste peinlich berührt feststellen, dass die entsetzt aufgerissenen Augen sämtlicher Menschen im Lesesaal auf sie gerichtet waren.
    »Wir sollten gehen«, flüsterte sie Rebekka zu. »Wenn es eine Lösung gibt, dann finde ich sie sowieso nicht in diesen Schwarten.«
     
    Die Münzen prasselten aus der Emaillebüchse auf den Tisch. Als auch der letzte Pfennig herausgefallen war, stellte Täubrich die Dose beiseite und begann, das Geld zu sortieren und zu zählen.
    Das Ergebnis stellte ihn nicht zufrieden. Er überlegte intensiv, ob er nicht vielleicht noch an anderen Orten Barschaft aufbewahrte. Nach kurzem Nachdenken ging er hinüber zu dem Regal, das mit Dutzenden zylindrischer Glasbehälter vollgestellt war, in denen konservierte Präparate in Alkohol schwammen. Er schob das abnorm vergrößerte Herz sowie die Hand mit den acht Fingern zur Seite und fand dahinter, verborgen zwischen dem Hirn des Raubmörders und dem zyklopisch missgebildeten Fötus, das verstaubte Lackkästlein voller Geld, nach dem er suchte. Erfreut nahm Täubrich es an sich, entleerte es gleichfalls auf den Tisch und machte sich daran, die Münzen zu abgezählten Türmchen aufzuschichten.
    Aber wieder merkte er bald, dass es zu wenig war. Enttäuscht addierte er die Zwischensummen und kam am Ende auf gerade einmal 118 Thaler, 5 Groschen und 8 Pfennige. Von den angestrebten 500 Thalern war er noch immer meilenweit entfernt, obwohl er alle seine nur irgendwie entbehrlichen Ersparnisse zusammengekratzt hatte. Doch so leicht ließ der Arzt sich nicht entmutigen.
    Er wusste, mit dem Armband könnte er Amalie von Rheine eine große Freude bereiten, so sehr sie auch bestritt, dass ihr an dem Schmuckstück etwas lag. Darum hatte er sich fest in den Kopf gesetzt, ihr genau dieses Armband zum Geschenk zu machen.
    Er nahm einen der Groschenstapel in die Hand und ließ die kleinen Silbermünzen durch seine Finger rieseln. Hell klimpernd fielen sie auf den Tisch.
    Amalie bekommt das Armband, oder ich will nicht mehr Georg Täubrich heißen!,
schwor

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