Die Fahrt des Leviathan
Einsamkeit nötig gehabt und sich ganz allein an diesen Ort begeben, um in Ruhe seine Gedanken Revue passieren zu lassen. Und das bedeutete für ihn vor allem, dass er seiner unzähligen Sorgen und Bedenken Herr zu werden versuchte, indem er angestrengt nach Lösungen für all die Probleme suchte, mit denen er sich konfrontiert fand.
Das größte dieser Probleme war, dass alle Welt baldige Erfolge von ihm erwartete. Der Präsident saß ihm ebenso im Nacken wie die gesamte Presse des Nordens. Also hatte er in aller Eile einen Feldzugsplan entworfen und die riesige Potomac-Armee in Marsch gesetzt. Er wollte sie südwärts nach Richmond führen, die Hauptstadt der Konföderation einnehmen und so der Rebellion ein Ende setzen.
Anfangs war auch alles recht gut gelaufen, weit besser, als Burnside befürchtet hatte. Trotz ihrer ungefügen Größe war die Potomac-Armee schnell vorangekommen und hatte den Rappahannock erreicht, den ersten von mehreren Flüssen, die sie auf ihrem Weg nach Richmond zu überqueren hatte. Dann aber stellten sich die Schwierigkeiten ein.
Die Pontonbrücken, auf denen die Armee über den Fluss gehen sollte, hatte man durch ein Missverständnis tagelang in die verkehrte Richtung transportiert. Als der Fehler dann endlich bemerkt worden war, hatten sintflutartige Regenfälle eingesetzt. Auf den völlig verschlammten Straßen kamen die langen Züge schwer bespannter Fuhrwerke nur schleppend voran. Erst nach und nach trafen jetzt die ersten Pontons ein. Durch diese Verkettung unglücklicher Umstände würde sich der Übergang der Armee über den Fluss ganz erheblich verzögern. Und der Feind, das wusste Burnside, nutzte jede ihm dadurch geschenkte Minute. Er brauchte nur das Fernglas an die Augen zu setzen, um von seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort die eintreffenden Rebellenregimenter auf der anderen Seite des Flusses zu sehen. Lee sammelte seine Nordvirginia-Armee auf dem Höhenrücken oberhalb Fredericksburgs und ließ sie dort Stellungen beziehen.
Burnside war bewusst, dass Lee dort wenn nötig den ganzen Winter hindurch ausharren und ihm den Weg nach Richmond versperren konnte. Er selbst hingegen durfte sich den Luxus so langen Verweilens nicht leisten. Der Zwang, rasch einen entscheidenden Sieg herbeizuführen, ließ keinen Gedanken daran zu. Er würde genau an diesem Ort schon sehr bald eine Schlacht schlagen müssen, um das Tor nach Süden aufzubrechen. Aber wie?
Der General hob einen trockenen Zweig vom Boden auf und ließ ihn gedankenversunken durch die Finger gleiten.
Was soll ich tun?,
fragte er sich immer wieder.
Aber dann hatte er eine Eingebung. Er drehte die Frage herum, betrachtete die Angelegenheit aus der Perspektive seines Kontrahenten:
Was erwartet Lee wohl, was ich tun werde?
Und nun ergab sich die Antwort mit verblüffender Leichtigkeit ganz von selbst. Sie war bestechend einfach. Lee musste, so kalkulierte Burnside, natürlich davon ausgehen, dass die Hauptmacht der Unionsarmee nördlich oder südlich von Fredericksburg über den Fluss setzen würde, um sodann die konföderierten Flanken anzugreifen. Denn schließlich trachtete ja jeder General danach, seinen Feind an den schwächsten Stellen zu attackieren.
Burnside hingegen hatte vor, das Gegenteil zu tun. Er würde das Gros der Potomac-Armee unmittelbar in Fredericksburg über den Rappahannock schicken und dort das Zentrum der Rebellenlinien angreifen lassen. Ja, er wollte den Gegner mit voller Absicht dort attackieren, wo er am stärksten war! Dieser Zug, unberechenbar und wider alle Konventionen der Kriegskunst, musste Lee einfach heillos irritieren. Der Südstaatengeneral würde darauf nicht zu reagieren wissen und in seiner Verwirrung Fehler begehen, die der Union den Sieg sicherten.
Der General warf den Zweig fort und erhob sich vom Baumstamm. Er hatte von dem künftigen Schlachtfeld genug gesehen. Nun galt es, seiner Idee die Form eines Plans zu verleihen. Mit den Fingern strich er sich über den von der feuchten Luft klammen Backenbart und stapfte durch den knöcheltiefen Morast hangabwärts.
24. November
Mit großem Geschick gelang es Rebekka Heinrich, zwischen den langen Reihen eng beieinanderstehender Tische hindurchzulavieren, ohne mit ihrem Reifrock irgendwo anzustoßen. Zielstrebig durchschritt sie den großen runden Lesesaal. Nur eine Handvoll Bibliotheksbesucher verlor sich unter der hohen Kuppel der Rotunde, verteilt über den gesamten Raum, als versuchte jeder von ihnen, größtmöglichen Abstand
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