Die Fahrt des Leviathan
daran, dass er sich sputen musste, wollte er nicht zu spät zu seiner hochschwangeren nächsten Patientin kommen. Er beschleunigte seine Schritte und ging mit wehenden Rockschößen die Straße hinab.
19. November
Healey saß an seinem Schreibtisch, den Blick versonnen ins Leere gerichtet. In den letzten Tagen hatte er sich an seiner Arbeit festgeklammert wie ein Schiffbrüchiger an einem Stück Treibholz, um nicht unterzugehen. Doch er war oft, gefährlich oft, in Versuchung geraten, einfach loszulassen, um sich in die verschlingende kalte Dunkelheit hinabsinken zu lassen.
Jetzt war dieser finstere Drang nach Erlösung mit einem Schlag verflogen. Mit der Post dieses Morgens hatte Healey eine Einladung erhalten. Rebekka Heinrich beabsichtigte bald den Jahrestag ihrer Examinierung als Lehrerin zu feiern und gab eine zwanglose Gesellschaft, bei der sie auch ihn als Gast willkommen heißen wollte.
Zunächst hatte Healey mit erstauntem Unverständnis reagiert. Ihm war nicht klar, weshalb ihn überhaupt ein Mensch einladen sollte, aus welchem Anlass auch immer. Dann jedoch hatte er begriffen, dass sich ihm eine unverhoffte Chance bot. Sofern er keine Fehler beging, mit denen er das Wohlwollen der Schuldirektorin verspielte, konnte es ihm vielleicht möglich werden, sich oft und ohne Argwohn zu erregen, in Fräulein von Rheines Nähe aufzuhalten. Es würde natürlich schmerzhaft sein, sie immerzu in Georg Täubrichs Begleitung zu sehen. Doch nur auf diese Weise konnte er sofort zur Stelle sein, wenn sie dieses Arztes überdrüssig wurde. Dieser Moment würde kommen, da war er ganz sicher. Er musste aber stets aufmerksam bleiben, um den vielleicht kurzen Moment nicht zu verpassen, in dem sich für ihn eine Tür auftat.
Healey stand auf und ging sinnierend im Kreis um den Tisch, die Hände auf dem Rücken. Ihm kam die Einsicht, dass es nicht damit getan war, Fräulein von Rheines Nähe zu suchen. Er musste auch ihren Respekt gewinnen. Er musste etwas Herausragendes leisten, etwas Bemerkenswertes, das es ihr ermöglichte, ihn zu bewundern. Mit seiner augenblicklichen armseligen Mittelmäßigkeit war jedes Bemühen um ihre Zuneigung, in welcher noch so günstigen Situation auch immer, gänzlich vergebens. Davon war Healey fest überzeugt.
Abrupt blieb er stehen und schlug mit der flachen Hand entschlossen gegen die Wand, so kräftig, dass sich Fähnchen aus der großen Landkarte lösten und zu Boden fielen. Er würde seine Chance finden und ergreifen. Amalie von Rheine sollte stolz auf ihn sein können, wenn der alles entscheidende Moment kam.
Richmond
Der immerzu von einer Aura freudloser Askese umgebene Jefferson Davis erweckte nur selten den Anschein, vollauf zufrieden zu sein. Zumeist wirkte der Präsident der Konföderierten Staaten von Amerika missmutig und verdrießlich. Auch entsann sich kaum jemand, ihn je in gelöster Stimmung erlebt zu haben. Dass er, wie sein Widersacher Abraham Lincoln, unbefangen selbst mit völlig Fremden plauderte und dabei kleine Scherze machte, war gänzlich unvorstellbar. Zu sehr wäre ein solches Verhalten nicht nur Davis’ Verständnis von der Gravität seines Amtes, sondern auch seinem gesamten Naturell zuwidergelaufen.
Er galt gemeinhin als distanziert, ja abweisend. Nur wenige vermochten zu verstehen, dass dieses Auftreten aus Davis’ ernsthaftem Bemühen erwuchs, mit aller angemessenen Würde ein Amt auszufüllen, um das er sich nicht beworben hatte und das ihn mit jedem Tag vor neue unlösbar scheinende Schwierigkeiten stellte. Es war seine aufrichtige Absicht, die ihm auferlegten Pflichten nach Kräften zu erfüllen. Sogar die quälend schmerzhaften Erkrankungen, die ihm ständig zusetzten und die bereits das Augenlicht auf einer Seite gefordert hatten, ließ er vor sich selbst nicht als Grund gelten, seinen Rücktritt zu erklären und sich so der drückenden Verantwortung für eine um das nackte Überleben kämpfende Nation zu entledigen. Fahnenflucht stand für ihn nicht zur Diskussion.
An diesem Tag aber war Davis erheblich besser gestimmt als sonst. Was er anfangs noch für eine wüste Phantasterei gehalten hatte, war nunmehr eine zum Greifen nahe reelle Hoffnung für die Konföderation. Der Präsident hatte mit ganzer Aufmerksamkeit zugehört und sich nur gelegentlich in Konzentration versunken über den ergrauten Kinnbart gestrichen, während der kurz zuvor aus Friedrichsburg eingetroffene Charles Beaulieu ihm die Einzelheiten des Vorhabens auseinandersetzte.
»Der
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