Die Falken und das Glück - Roman
auf mich, warf er ihr vor. Lass mich in Ruhe, sagte sie.
Wenn du tot bist, hast du dann deine Ruhe, sagte Daniel und schüttelte sie.
Sie lagen reglos nebeneinander auf dem Boden. Er schluchzte lautlos, sie spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, obwohl sie ihn nicht berührte. Sie versuchte, so flach wie möglich zu atmen, um sich nicht zu verraten. Sie war verloren in ihrem Schmerz, unauffindbar.
Linda hatte ein Pfeifen im Ohr, sie konnte kaum mehr hören. Daniel schrie sie stundenlang an, er schrie im Auto, in der Küche, im Bett. Er schrie tagsüber und mitten in der Nacht, schrie auf sie ein, während sie auf dem Klo saß oder unter der Dusche stand.
Und er schrie auch weiter, als sie endlich eingeschlafen war.
Sie floh in den Turm.
Linda presste ihre Stirn an die kalte Mauer, wurde eins mit dem Stein, mit der Piratin. Sie wollte nichts zu tun haben mit den Tagestouristen, die im Sommer bootsweise die Insel überfluteten. Sie setzte sich auf eine Bierkiste, die jemand stehen gelassen hatte. Sie klappte ihr Notizheft auf, vertiefte sich in ihren Text. Diese Geschichte gehörte ihr, die würde ihr niemand nehmen. Sie schrieb um ihr Leben. Damit konnte sie nur scheitern, das ahnte sie. Sie klammerte sich an den Text wie eine Ertrinkende. Sie hatte nur diese Geschichte, sie hatte nichts anderes mehr im Leben. Es gab nur die Piratin und das Dokument in ihrem Notebook, das langsam wuchs.
In ihren Sätzen suchte sie die Leichtigkeit, die sie im Alltag vermisste. In den Sätzen wollte sie finden, was ihr im Leben fehlte. Dabei ahnte sie, dass sie nur gewinnen konnte, wenn sie um des Textes willen schrieb. Sie musste loslassen. Die einzige Moral des Schreibenden war ein guter Satz. Mehr durfte sie nicht erwarten.
Sie kämpfte um jedes Wort. Sie sah ein, dass ihr nichts im Leben leichtfallen würde. Das Leben war nicht dazu da, einem leichtzufallen.
Daniel verbot Linda, zum Turm zu gehen. Er bildete sich ein, sie schaue den jungen Fischern nach. Sie hätte lüsterne Blicke aus der Schießscharte geworfen. Aber auf der landwärtigen Seite des Turms grasten nur Schafe.
Linda hintergehe ihn in Gedanken, behauptete er, sie hintergehe ihn mit bösen Absichten.
Je mehr Linda sich gegen seine Eifersucht wehrte, desto stärker wurde Daniels Verdacht. Die Anklagen ließen sich niemals widerlegen, weil es nichts zu beweisen gab.
Sie musste entkommen, bevor es zu spät war.
Warum hast du mich überhaupt geheiratet?
Das frage ich mich auch, antwortete er düster.
Die Vorwürfe wären leichter zu ertragen, wenn es tatsächlich einen Grund gäbe, wenn da ein Gegenüber wäre, das die Anschuldigungen rechtfertigte. Aber da war niemand.
Linda zwang sich, einen Zwieback zu essen, weil Daniel ihr vorwarf, sie esse nichts mehr. Sie sah ihm zu, wie er sein Müsli löffelte. Er streckte die Zunge heraus, um den Weg des Löffels zu verkürzen. Wie hatte sie das all die Jahre übersehen können. Sie starrte auf seine pelzige, weiße Zunge, die bei jedem Bissen herausfuhr, als sei er eine Echse. Er tat ihr leid.
Sie schloss die Türe und zündete eine Duftkerze an, sie ertrug den Geruch seines Rasierwassers nicht mehr, der aus dem Bad in ihr Zimmer drang. Sie steckte sich Kopfhörer in die Ohren, damit sie ihn durch die dünne Wand nicht hören musste. Sein ständiges Räuspern und Hüsteln zerrte an ihren Nerven, sein Rülpsen und Furzen wurde ihr unerträglich.
Er sei ein Schwein, sagte er, er habe nie etwas anderes behauptet. Wer mit ihm leben wolle, müsse das aushalten.
Linda schrieb eine Liste mit Kreditkarten- und Versicherungsnummern, versteckte sie, zusammen mit ihren Ausweisen. Sie druckte sich Flugpläne aus. Daniel fand die Unterlagen und das Geld, das sie dazugelegt hatte. Er knackte ihre Passwörter.
Heimlich telefonierte sie mit Pat.
Sei vorsichtig, warnte dieser. Versteck deine Sachen besser. Und wenn es gar nicht mehr geht, komm zu mir.
Hunde, die bellen, beißen nicht!
Da wäre ich mir nicht so sicher, sagte Pat. Neulich hat einer seine Frau verbrannt, auf einem Haufen Autoreifen. Die Frau habe auch immer geglaubt, ihr Mann werde ihr nichts antun, obwohl er sie immer wieder bedroht hatte. Gibt es irgendeinen Ort auf der Insel, wo du dich in Sicherheit fühlst?
Ich verbringe meine Tage im Turm, sagte sie. Dort habe ich auch meine Sachen versteckt. Wenn er getrunken hat, kommt er die Leiter nicht hoch, die ist viel zu wacklig.
Und die Nachbarn?
Ich habe etwas Geld versteckt im Turm, meinen Pass
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