Die Falken und das Glück - Roman
auch.
Daniel sollte dringend einen Arzt aufsuchen. Er hängt so sehr an dir, es tut mir aufrichtig leid für euch.
Daniel will mich loswerden, sagte Linda, er hofft doch nur, dass ich gehe.
Er hofft gar nichts mehr, sagte Pat, er verzweifelt.
Fünf Jahre waren ins Land gezogen. Sie hatten nie mehr über das Kind geredet, das sie verloren hatten. Und es war ihnen nicht gelungen, ein weiteres Kind zu zeugen. Linda arbeitete an ihrem Buch, sie kümmerte sich um ihr Gärtchen. Daniel war froh, dass sie ihn in Ruhe trinken ließ.
Anfangs war sie allen Schwangeren aus dem Weg gegangen. Sie hatte es kaum übers Herz gebracht, das Neugeborene ihrer Nachbarin im Arm zu halten. Monatelang ging sie nicht mehr auf Besuch. Aber wann immer sie auf dem Festland war, begegneten ihr schwangere Frauen, dick wie Blauwale, als hätten sie es alle darauf abgesehen, Linda ihre Nutzlosigkeit vor Augen zu führen. Die Schwangeren schoben sich an ihr vorbei, mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, als berechtigten ihre Bäuche sie, die Welt in Beschlag zu nehmen. Frauen mit Kinderwagen fuhren ihr über die Füße. Kleinkinder klammerten sich an ihre Beine und plärrten.
Mit den Jahren war der Schmerz abgeklungen, sie hatte kaum mehr an das Kind gedacht. Und dann wurde ihre Schwester schwanger. In Linda riss die alte Wunde auf, sie fühlte sich, als hätte sie erst gestern ihr Kind verloren.
Sie hatte es Sidonie sofort angemerkt, am Telefon gehört.
Sidonie hatte angerufen, ohne zu sagen, worum es ging. Aber ihre Stimme hatte so aufgekratzt geklungen, dass Linda intuitiv fragte, ob sie ein Kind erwarte.
Sag niemandem etwas, bat Sidonie, es ist noch zu früh.
In welchem Monat bist du?
Die achte Woche.
Behalt es für dich, Schwesterherz. Sag niemandem etwas, bevor ihr die ersten drei Monate überstanden habt. Ich wünsche dir Glück!
Sie freute sich aufrichtig für Sidonie.
Darf ich die Patin sein?
Es ist noch zu früh, sagte Sidonie.
Pass auf!, bat Linda. Keine schweren Sachen heben, keine Aufregung!
Das Baby ihrer Schwester erschütterte Lindas kleine Welt. Sie würde verpassen, wie ihre Nichte aufwuchs. Sie würde ihr erstes Lächeln verpassen. Sie würde ihre ersten Schritte, ihre ersten Worte, ihr erstes Lied verpassen.
Schwesterherz hier, Schwesterherz da, mokierte sich Daniel beim Abendessen.
Linda warf ihm ihren Teller an den Kopf, Spinat und Eier. Verdutzt blieb er sitzen, grün und gelb tropfte das Essen aus seinem Stoppelbart. Linda wusste nicht mehr, was sie an seiner Seite verloren hatte. Sie saß am Ende der Welt und pflanzte Kartoffeln, sie sah zu, wie ihr Mann sich betrank, und wartete auf seinen nächsten Wutausbruch. Sie zog den Kopf ein, bis ihr Nacken schmerzte. Ihr Rücken war seit Monaten steif von der Gartenarbeit und vor Angst. Mitunter konnte sie kaum mehr den Kopf drehen. Ihr Leben würde immer so weitergehen. Daniel würde mit jedem Jahr mehr trinken. Er würde nicht netter werden.
Sie musste etwas unternehmen.
Linda beschloss, die Arbeit an ihrem Manuskript ernsthafter voranzubringen.
Pat hatte ihr ein Mail geschickt mit Angaben, wo sie weitere Unterlagen finden konnte: in Dublin, in der Nationalbibliothek. Dort würden die Annals of the Four Masters liegen. Vier irische Mönche hatten darin alles festgehalten, was sich von den Anfängen der keltischen Geschichte bis zum Jahr 1616 ereignet hatte.
Lass dir die alte Ausgabe von John Donovan geben, hatte er ihr empfohlen. In der grünen Leinenausgabe, die bei den Enzyklopädien stehe, komme Granuaile nicht vor.
Daniel hatte das Mail ausgedruckt. Wütend fuchtelte er mit dem Zettel vor Lindas Augen.
Hintergehst du mich jetzt mit Pat? Am Ende kommt der noch mit nach Dublin, damit du dich nicht verirrst.
Er hilft mir bei der Recherche, sagte Linda.
Logisch, Recherche, mokierte sich Daniel, seit wann recherchiert man im Bett?
Aber Linda wollte, sie musste nach Dublin in die Nationalbibliothek. Das wurde zur fixen Idee. Sie würde für einige Tage wegfahren, würde in einem günstigen B&B ein Zimmer nehmen, sie würde in Ruhe recherchieren und an ihrem Text arbeiten. Und wenn sie genug wüsste, dann käme sie zurück. Sie würde das Buch fertig schreiben. Und dann weitersehen.
Linda flanierte durch die Grafton Street, sie sah den Menschen in die Augen, sah Paare, die sich umarmten, Küsse, hier ein Lächeln, dort eine vertraute Geste. Ihr begegneten freundliche Blicke, euphorische, gelangweilte, müde Augen. Die Menschen sind böse und
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