Die Falken und das Glück - Roman
Arbeit über Granuaile. Sie legte das Manuskript in eine Lackschachtel, die ihre Schwester ihr schenkte.
Sie verriet Sidonie das Passwort ihres Computers, für den Fall, dass ihr selbst etwas zustoßen sollte.
Und dann begann sie sich durch die Bibliothek ihrer Schwester zu arbeiten. Beide hatten sie seit jeher viel gelesen, doch selten dieselben Autoren. Sie würde einige Monate beschäftigt sein, bis sie sich durch Sidonies Bücher gelesen hatte. Und sie freute sich darauf. In der Bibliothek von jemand anderem zu wohnen war wie Urlaub. Linda las nächtelang. Sie entdeckte Autoren für sich, von denen Daniel nichts hielt. Von vielen Büchern ihrer Schwester hatte sie noch gar nie gehört. Neue Welten taten sich ihr auf. Und sie fühlte sich geborgen in der Mansarde ihrer Schwester. Zugleich blieb sie merkwürdig verloren.
Sie vermisste Daniel.
Und wollte ihn doch um keinen Preis zurückhaben.
Sie war dankbar, entkommen zu sein.
Inmitten der Bücher ihrer Schwester dämmerte ihr, wie hoffnungslos der Versuch war, neben einem Mann bestehen zu wollen, der nicht nur seiner Frau, seinen Freunden und Gönnern, sondern niemandem über den Weg traute.
Und doch vermisste sie ihn, vermisste ihn mit jeder Faser ihres Körpers.
Mitunter schien sie zu schweben.
Ohne Mann und Haus und Garten fühlte sich Linda frei und leicht. Sie realisierte, wie viel Zeit sie nun hatte. Die Tage lagen leer und weit vor ihr, Wochen, Monate, ihr Leben fortan ohne Aufgabe und Ziel und nichts, das begossen und niemanden, der bekocht und umsorgt werden musste. Sie schlenderte durch die Laubengänge, sie saß in Straßencafés und fand eine Gelassenheit, die ihr neu war. Sie hütete ihre Nichte. Sie las. Und sie kaufte Schuhe. Ruhig und gefasst machte sie einen Schritt nach dem anderen.
Oft dachte sie in irischer Zeit, war in Gedanken eine Stunde voraus. Wegen jeder Kleinigkeit brach sie in Tränen aus.
Und dann begann es zu schneien. Linda starrte in die Flocken, ihr Herz schlug höher. Stoff ihrer Träume, jede Schneeflocke ein Bruchteilchen ihrer Sehnsucht. Die Sterne tanzten über ihrem Kopf, sie nisteten sich in ihren Haaren ein, sie schmolzen auf ihrer Nase, zergingen ihr auf der Zunge. Sie bückte sich, sie klaubte eine Handvoll der weichen Masse auf, sie drückte sie zu einem Ball – zögerte, Sidonie den kalten Klumpen in den Kragen fallen zu lassen. Sich mit Schnee einseifen, hatten sie als Kinder gesagt. Den Engel machen. Ihre Erinnerungen waren ins Eis geschlossen. Die zwei Schwestern gingen weiter, den Kopf im Nacken. Linda fing mit der Zunge Flocken. Ihr bisheriges Leben verschwand im Gestöber, sie fasste Fuß im neuen Schnee. Tränen rannen ihr über die Wangen, gefroren zu Milchglas auf ihrer Jacke.
In meiner ersten Nacht auf Clare Island hatte ich von Vater geträumt, sprach sie in den Schnee hinaus.
Ich habe jahrelang von Vaters Tod geträumt, sagte Sidonie, die Träume haben erst mit der Geburt von Sarah aufgehört. Seither träume ich gar nichts mehr.
Du bist nur zu müde, um dich daran zu erinnern. Kein Wunder, wenn Sarah mitten in der Nacht Zetermordio schreit.
Hast du sie auch gehört?
Als hätte sie direkt vor meiner Türe gestanden.
Sie träumte von einem bösen Hund.
Ich habe letzte Nacht Daniel im Traum gesehen. Da blieb vor Schreck der Wecker stehen.
Sie lachten über den alten Reim ihres Vaters.
Mit bösen Hunden ist das eine Sache, sagte Linda. Man fürchtet sich ein halbes Leben lang vor ihnen. Und eines Tages nimmt man seinen Mut zusammen und stellt sich ganz nah vor sie hin und schreit sie an. Man schreit mit aller Überzeugung, die man aufbringen kann. Und dann stellt man fest, dass sie gar nicht beißen. Man begreift, dass man sich all die Jahre umsonst klein gemacht hat.
Du hast zwei böse Hunde zurückgelassen.
Und keiner von beiden hat mich letztlich gebissen.
Pharao hat tatsächlich immer nur Daniel erwischt!
Die Welt ist eben doch gerecht, witzelte Sidonie.
Sie prusteten beide los, steigerten sich in einen Lachkrampf hinein, Tränen rannen ihnen über die Wangen.
Ich habe dich lange nicht mehr so lachen gehört, sagte Sidonie, langsam wirst du wieder die Alte!
Meine Nackenstarre ist weg, stellte Linda fest.
Sie warf den Kopf nach hinten.
Weg, rief sie, wirklich, auch die Rückenschmerzen, alles vorbei!
Sie ruderte begeistert mit den Armen, sie hüpfte auf und ab und rührte die Luft wie ein junger Vogel, der flügge wurde, jubelte: Ich kann mich frei bewegen!
Den Kopf über den
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