Die falsche Frau
vermutlich nicht gerne hören, in vielen Dingen haben sie recht, die
jungen Leute. Bei uns liegt so vieles im Argen. Wir Ãlteren wollen es nur nicht
mehr sehen. Wir haben uns daran gewöhnt â an die schreiende Ungerechtigkeit, an
die Menschenverachtung, auf der dieses System basiert.«
»Natürlich ist der Wohlstand bei uns ungleich verteilt. Aber auch
denen, die wenig haben, geht es immer noch sehr viel besser als den Armen
vergangener Generationen.«
Gudrun Linhardt sprang auf, setzte einen kalkfleckigen Wasserkocher
in Betrieb, warf Teebeutel in zwei groÃe Becher, setzte sich wieder. Dann sah
sie mir offen und ernst in die Augen.
»Das ist das Argument, das an dieser Stelle immer kommt. Wissen Sie,
dass eines von zehn Kindern in unserem Land in Armut aufwächst?«
»Es steht hin und wieder in der Zeitung. Und es ist eine Schande,
ja.«
»Für diese Kinder ist es ziemlich unerheblich, dass die Kinder vor
hundert Jahren noch ärmer dran waren als sie. Sie vergleichen sich auch nicht
mit den Kindern in den Slums der Dritten Welt. Ihr MaÃstab sind die
Nachbarskinder der Gegenwart, ihre Freunde, ihre Klassenkameraden. Aber was
soll von einem System Gutes kommen, dessen Hauptantriebskraft einer der
verachtenswertesten menschlichen Triebe ist, die Raffgier?«
»Mehr Wohlstand für alle, zum Beispiel?«
»Wenn er nur nicht so ungerecht verteilt wäre, dieser Wohlstand. Und
es wird ja von Jahr zu Jahr schlimmer.«
»Das ist alles richtig und â¦Â«
Der Wasserkocher begann zu singen.
»In unserem Grundgesetz steht: Eigentum verpflichtet. Aber heute
heiÃt es nur noch: Jeder gegen jeden. Wer unter die Räder kommt, hat Pech
gehabt. Der wird wohl an irgendeinem Punkt seines Lebens falsch abgebogen
sein.«
»Was Sie sagen, mag für die USA richtig sein â¦Â«
Sie wandte mir den Rücken zu, goss im Sitzen Tee auf, während sie
weitersprach.
»Jedes Jahr wird in Berlin ein Armutsbericht veröffentlicht. Jedes
Mal ist die Empörung groÃ. Das darf nicht so bleiben, heiÃt es dann. Die Schere
zwischen Arm und Reich darf sich nicht immer noch weiter öffnen. Und ein Jahr
später ist es genau dasselbe. Nichts ändert sich, gar nichts. In den letzten
drei Jahren hat sich die Anzahl der Menschen, die sich hier in unserem Lädchen
mit dem Nötigsten versorgen, mehr als verdoppelt. Und glauben Sie mir, die
wenigsten kommen, weil sie Schnäppchen machen wollen. Den meisten ist es beim
ersten Mal entsetzlich peinlich, und man muss ihnen lange zureden, bis sie einem
glauben, dass nicht nur ihr eigenes Versagen schuld ist an ihrem Elend.«
»Frau Linhardt, ich bin eigentlich nicht hier, um â¦Â«
Ihr Blick war finster geworden. »Die meisten denken ja, die
Menschen, die in unser Lädchen kommen, sind Asoziale. Das stimmt aber nicht.
Die Asozialen, die wohnen in den Villenvierteln. Die betteln nicht, sondern
werden reich, ohne einen Finger zu rühren.«
Nach diesem Statement wandte sie sich wieder ihren Teebeuteln zu,
mit denen sie irgendein Ritual zu vollführen schien.
»Geld hat nun mal die Eigenart, sich dort anzusammeln, wo schon Geld
ist«, fuhr sie fort. »Und es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des
Staates, ständig dagegen anzukämpfen. Ständig für eine Umverteilung von oben
nach unten zu sorgen.«
Endlich war der Tee fertig. Sie warf die Beutel in einen randvollen
Papierkorb aus dunklem Weidengeflecht, der unter dem Waschbecken stand, und
schaufelte drei Löffel Zucker in ihren Tee. Ich verzichtete auf den Zucker und
hatte eigentlich auch gar keine Lust auf Tee. Von dem Magenbitter hätte ich
noch genommen, aber ich war ja im Dienst.
»So, und nun habe ich Ihnen ordentlich die Meinung gesagt. Aber Sie
sind ja hier, um über Jonas zu reden.« Ihr Blick irrte ab, wurde verschleiert.
»Das hat er nicht verdient.«
»Niemand hat den Tod verdient. Schon gar nicht in seinem Alter.«
»Was möchten Sie wissen?«
Ich schilderte kurz, worum es ging. Erzählte von dem abgebrannten
Haus, in dem wir Peter von Arnstedts Leiche gefunden hatten oder besser gesagt
das, was davon übrig geblieben war.
Ãber den dampfenden Becher hinweg sah sie mich aufmerksam an. »Jonas
war der friedlichste Mensch, den man sich denken kann. Der hat jeder Fliege das
Fenster geöffnet. Jede Schnecke vom Weg aufgehoben und ins Gras gesetzt.«
»Der
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