Die falsche Frau
Brand war in der Nacht vom neunten auf den zehnten September.
Ist Ihnen an den Tagen davor etwas an ihm aufgefallen? War er vielleicht
ungewöhnlich nervös?«
»An den Abend erinnere ich mich sogar sehr gut. In den Wochen davor
war Jonas sehr deprimiert gewesen. Peter hatte ihn sitzen lassen. Schlimmer
noch: Er war einfach verschwunden. Aber eines Morgens, das muss einige Tage vor
dem Brand gewesen sein, da hatte ich den Eindruck, dass es Jonas besser geht.
Auf einmal hat er wieder gelächelt. Wir anderen haben vermutet, dass er seinen
Liebsten wiedergetroffen hat. Oder einen anderen gefunden hat. Es war aber
nichts aus ihm herauszubringen. Obwohl er sonst nichts für sich behalten
konnte.« Sie schwieg für kurze Zeit, nippte an ihrem heiÃen Tee.
»Peter ⦠Ich mochte ihn nicht besonders. Er hat auch nie bei mir
gewohnt.«
»Jonas Jakoby war also auf einmal wieder gut drauf â¦Â«
Sie blies in ihren Becher. »Ich habe ihn ein bisschen geneckt.
Wollte ihn aus der Reserve locken. Ob er und Peter wieder zusammen seien, habe
ich gefragt. So gut wie, hat er geantwortet. So gut wie. Ich habe gefragt, ob
sie sich ausgesprochen hätten. Da hat er erst rumgedruckst und schlieÃlich
gesagt, er hätte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Peter zu sprechen.«
Im Nachbarbüro wurde immer noch telefoniert. Ich sah durch das trübe
Fenster hinaus in einen grauen Hinterhof, wo eine lange Reihe Müllcontainer
stand.
»Er war krank vor Liebeskummer«, sagte ich langsam, »und plötzlich
war er wie verwandelt â¦Â«
»Ich denke, er hat Peter wiedergesehen. Wahrscheinlich in der Stadt.
Er hat ja oft stundenlang an der HauptstraÃe gestanden und seine Musik gemacht.
Da sieht man früher oder später jeden Bewohner Heidelbergs vorbeikommen.«
»Wenn er ihn gesehen hat, warum hat er ihn nicht angesprochen?«
Irgendwo in den vorderen Räumen fiel etwas Schweres zu Boden. Ein
Mann fluchte mit beeindruckender Ausführlichkeit.
»Vielleicht war er in Begleitung?«, schlug Gudrun Linhardt vor.
»Wäre er dann nicht erst recht eifersüchtig geworden?«
»Vielleicht war es eine Frau?« Sie stellte den halb leeren Becher
auf den Tisch. »Eine Frau, die aus irgendeinem Grund keine Konkurrentin für ihn
war?«
Eine Frau, die vielleicht nicht mehr jung war. Etwas wie ein
Stromschlag durchfuhr mich. Eine Vorstellung, die mir ganz und gar nicht gefiel
und möglicherweise vieles erklärte. Ich bemerkte, dass meine Gesprächspartnerin
mir aufmerksam ins Gesicht sah.
»Sie haben eine Idee, wer diese Frau sein könnte?«
»Ja«, sagte ich. »Ich habe eine Idee.«
»Darf ich erfahren, an wen Sie denken?«
Ich erhob mich, stellte meinen fast noch unberührten Becher ins
schmutzverkrustete Waschbecken. Auf der Oberfläche des Tees trieben trübe
Schlieren.
»Das kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen.«
»Herr Gerlach.« Jetzt lächelte sie wieder. »Ich war sehr ehrlich zu
Ihnen. Und ich kann schweigen wie ein Grab.«
Ich setzte mich wieder. »Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie es
nicht weitererzählen?«
»Ich stehe kurz davor, beleidigt zu sein.«
»Der Name der Frau ist möglicherweise Judith Landers.«
»Judith?« Mit groÃen Augen sah sie mich an. »Ich dachte ⦠ich habe
all die Jahre geglaubt, sie ist tot?«
»Sie kennen sie?«
»Kennen ⦠Wir waren auf derselben Schule. Judith war in der
Parallelklasse. Später hat sie am Klinikum ein Praktikum gemacht, und ich lag
zwei Wochen dort als Patientin. Blinddarmdurchbruch. Bis dahin hatten wir kaum
miteinander zu tun gehabt. Aber damals, in diesen zwei Wochen, haben wir uns
fast täglich gesehen und gesprochen. Damals haben wir entdeckt, dass wir gut
miteinander konnten. Haben uns sogar ein wenig angefreundet und uns auch später
noch einige Male getroffen. So habe ich dann auch ziemlich hautnah miterlebt,
wie sie immer extremer wurde in ihren Ansichten. Wolfram ⦠Sie kennen den
Namen, Dr. Wolfram Helms?«
Ich nickte.
»Er hatte keinen guten Einfluss auf sie. Judith war ⦠ist ein kluges
Mädchen, eine kluge Frau ⦠Sie ⦠Mein Gott, und jetzt ist sie wieder in der
Stadt? Sie werden mir vermutlich nicht verraten, was sie hier will?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Kannâs mir denken«, murmelte Gudrun Linhardt, jetzt aschfahl im
Gesicht.
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