Die falsche Frau
das bei ihm, genau. Er hat sich immer mehr in sich selbst
zurückgezogen, überall nur noch finstere Mächte am Werk gesehen, Bosheit und Betrug.
Anfangs habe ich noch versucht, an ihn ranzukommen. Aber im Mai, im Mai warâs
dann vorbei. Endgültig. Ich wollte nicht mehr, und irgendwie konnte ich auch
nicht mehr.«
»Sie haben Schluss gemacht?«
Nachdenklich schüttelte sie den Kopf und schien einige Sekunden der
Vergangenheit nachzuträumen. »Er. Per SMS. So ungefähr das Feigste, was es
gibt. Aber ich war auch nicht weit davon entfernt. Es ging einfach nicht mehr.«
Bei meiner nächsten Frage wählte ich meine Worte mit Bedacht: »Hat
er damals möglicherweise â sagen wir mal â Gleichgesinnte kennengelernt?«
Die junge Frau schlug die Augen nieder und dachte nach. »Irgendwas
ist da gewesen«, sagte sie schlieÃlich. »Man spürt das. Früher haben wir viel
gestritten. Ãber seine Ansichten, sein doofes Schwarz-in-Schwarz-Weltbild.
Klar, es gibt viel Schlimmes. Die Klimakatastrophe, die Armut in der Dritten
Welt, all das. Aber es wird doch nichts besser, wenn ich mich deswegen
kaputtmache. Die Optimisten waren es immer, die die Welt vorangebracht haben,
nicht die Untergangsphilosophen. Ist es jemals zuvor so vielen Menschen so gut
gegangen wie heute? Das ist doch Fakt, oder etwa nicht?«
Ich nickte und schwieg.
»Irgendwann ist mir aufgefallen, dass wir gar nicht mehr gestritten
haben. Das war ganz komisch. Andere Paare trennen sich, weil sie ständig
streiten. Bei uns warâs genau umgekehrt. Er hat mich nicht mehr an sich
rangelassen. Ich meine nicht körperlich. Das war schon ⦠Das war wie immer.
Okay. Auf einmal hat er nichts mehr von sich erzählt. Hat ein paar Wochen
gedauert, bis ich das gecheckt hab. Bin in so Sachen manchmal ein bisschen
langsam.«
»Eine andere Frau?«
Ihr Blick wurde für einen winzigen Moment unsicher. Dann schüttelte
sie hastig den Kopf. »Klar hab ich heimlich seine Mails gecheckt. Und sein
Handy auch. Da war nichts. Peter war ⦠Er war einfach nicht mehr erreichbar.
Kein Anschluss unter dieser Nummer.«
»Hat er Freunde gehabt?«
»Bekannte, ja. Kumpels, ja. Freunde kaum.«
»Kaum?«
Ihr »Na ja« klang, als wäre ihr die Frage unangenehm. »Da war so ân
Typ. Den Namen weià ich nicht. Mit dem hat Peter im Frühjahr öfter rumgehangen.
Ich hab die beiden auch später noch manchmal zusammen gesehen. Wie es schon aus
war zwischen uns. In der Mensa oder hier â¦Â« Sie wies mit einer schnellen Geste
um sich. »Die zwei sind immer sehr vertieft gewesen. Nehme an, sie haben
sämtliche Probleme der Welt gelöst, so wie die diskutiert und rumgefuchtelt
haben.« Traurig sah sie mich an. »Peter war noch ein Kind, wissen Sie? Zu naiv
für diese Welt, zu geradeheraus. Zu â¦Â«
Sie brach ab, starrte in ihr längst leeres Glas, an dessen Rändern
noch ein wenig Fruchtfleisch klebte, als gäbe es dort eine Erklärung zu lesen.
»Früher war er ganz anders«, fuhr sie leise fort. »Wir haben so viel
gelacht. Er hat Tiere geliebt. Die Natur. Wir sind oft spazieren gegangen. Er
hat so viel gewusst. Oft habe ich gestaunt, was er alles gewusst hat.«
»War dieser neue Bekannte Ihres Freundes schon älter? Ãber fünfzig?«
Entschiedenes Kopfschütteln. »DreiÃig und ein bisschen.«
»Sagt Ihnen der Name Jürgen Prochnik etwas?«
Fragender Blick.
Ich beschrieb ihr den alten Umweltschützer.
»Nee, der war mehr so der Anarchotyp.«
»Judith Landers?«
Wieder Kopfschütteln.
»Mary Wollstonecraft?«
Etwas blitzte auf in ihrem Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde
nur. Dann war es vorbei, und sie schüttelte zum dritten Mal den Kopf.
»Sie haben eben gezögert«, sagte ich. »Warum?«
»Irgendwo habe ich den Namen schon mal gehört. Weià nicht. Es hatte
aber nichts mit Peter zu tun, da bin ich sicher.«
»Es ist der Name einer englischen Schriftstellerin. Sie hat Ende des
achtzehnten Jahrhunderts gelebt.«
Selma Mangold sah hinauf zu den weiÃen Wolken, die gerade die Sonne
versteckten. »Es hat ⦠irgendwas hat es mit Politik zu tun gehabt und so. Ich
fühle positive Schwingungen bei dem Namen.«
»Falls es Ihnen wieder einfällt â¦Â«
»â¦Â ruf ich Sie an.« Sie lachte hell und warf den Kopf
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