Die falsche Frau
vorbei.
»Sie haben Glück, hier leben zu dürfen.« Sie lächelte wieder. Etwas
angestrengt noch, aber sie lächelte. »Ich mag Heidelberg wirklich sehr.«
»Sie waren noch nie hier?«
Und wieder wanderte ihr Blick zum Fenster. Als könnte dort drauÃen
plötzlich Judith Landers auftauchen und wehmütig zu ihrer ehemaligen
Studentinnenbude hinaufschauen.
»Wie?«, fragte sie, als hätte ich sie aus tiefen Ãberlegungen geschreckt.
»Sie waren noch nie in Heidelberg?«
»Nein«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf mit dem weichen,
braunen, erschütternd phantasielos geschnittenen Haar. »Nie.«
Erneut stockte das Gespräch. Dieses Mal rettete uns die flott arbeitende
Küche. An der Durchreiche ertönte ein Glöckchen, und Augenblicke später standen
zwei für Studentenappetit dimensionierte Teller auf dem Tisch. Helena Guballa
fiel über ihr Schnitzel her, als hätte sie drei Tage gehungert. Als sie Minuten
später das Besteck auf den leer geputzten Teller legte, sah sie mir ins Gesicht
und sagte das Letzte, was ich in diesem Moment erwartet hätte.
»Ich mag Sie.«
»Danke«, erwiderte ich mit vermutlich reichlich blödem Gesichtsausdruck.
»Ich Sie auch.«
Sie lächelte mich an mit der Friedlichkeit eines Menschen, der soeben
ein Riesenschnitzel nebst einem Berg Pommes frites verdrückt und derzeit keine
weiteren Wünsche ans Leben hat. »Sie sind ein nachdenklicher Mensch. Das ist
mir gleich am ersten Tag aufgefallen. Obwohl Sie mich anfangs nicht leiden
konnten.«
Ich schob meinen nicht ganz leeren Teller zur Seite und wusste
nicht, was ich antworten sollte.
»Sie sind keiner von den Machos, wie man sie in unserem Beruf ja
leider viel zu häufig trifft.«
Jetzt war es an mir, Komplimente zu machen, und wie so oft fiel mir
nichts ein. Stattdessen sah nun ich aus dem Fenster. Entdeckte gegenüber die
kleine Buchhandlung.
»Was liest sie eigentlich, Ihre Judith?«, fragte ich.
Mein plötzlicher Themenwechsel schien sie nicht zu überraschen.
»Die Klassiker natürlich. Thomas Mann aus Pflichtbewusstsein, Böll
mit Leidenschaft. âºDie verlorene Ehre der Katharina Blumâ¹ war lange Zeit eines
ihrer Lieblingsbücher. Später auch Politisches, natürlich. Marx, Engels, Rosa
Luxemburg. Und zur Entspannung hin und wieder Englisches.«
Ich hob die Hand, um ein zweites Viertel zu bestellen, sah Helena
Guballa fragend an. Sie nickte, ich reckte zwei Finger. Inzwischen hatte sich
das Lokal gefüllt. Es war laut geworden und warm.
»Eigentlich wollten wir ja nicht über die Arbeit reden«, sagte ich
und fragte sie, da mir beim besten Willen nichts Originelleres einfiel, wo sie
geboren und aufgewachsen war.
Paderborn, erfuhr ich. Sehr katholisch. »Wenn der Bischof niest, ist
am nächsten Tag die halbe Stadt erkältet.« Viel Regen. Der Frühling kommt spät.
Der Wein machte das Reden leichter, und irgendwann wurde mir
bewusst, dass ich mich im Grunde ganz wohl fühlte in der Gesellschaft dieser
merkwürdigen und zugleich so normalen Frau. Dieser Frau, die so kantig war und
zugleich so weich. Als Nächstes wurde mir bewusst, dass sie mir â offenbar
schon seit Sekunden â in die Augen sah und ihr stilles Lächeln lächelte, das
mich in diesem Moment so heftig an Mona Lisa denken lieÃ, dass ich fast
aufgelacht hätte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Nichts.«
»Sagen Sie schon. Sie haben eben an etwas gedacht.«
»Ich habe daran gedacht, dass ich es schön finde, hier mit Ihnen zu
sitzen. Und dass Sie manchmal lächeln, als hätte da Vinci Sie gemalt.«
Jetzt lachte sie laut und herzlich. »Das ist das schönste Kompliment,
das man mir in den letzten fünfzehn Jahren gemacht hat«, sagte sie, als sie
sich wieder beruhigt hatte.
»Ich mache eigentlich keine Komplimente«, sagte ich verlegen. »Ich
habe kein Talent dazu.«
Immer noch sah sie mir in die Augen. »Das macht Sie mir noch
sympathischer.«
Für einen winzigen Augenblick fürchtete ich, sie würde nach meiner
Hand greifen. Ich wandte den Blick ab. Zum zweiten Mal rettete mich die
Buchhandlung.
»Lesen Sie selbst auch viel?«
Ihr Lächeln zerfiel. Plötzlich nahm sie ihre schon leicht abgewetzte,
beigefarbene Handtasche auf die Knie und kramte darin herum. SchlieÃlich
förderte sie ein dünnes Büchlein
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