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Die falsche Herrin

Die falsche Herrin

Titel: Die falsche Herrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margrit Schriber
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herumliegen, die Glasaugen ins Nichts gerichtet.
    Sie sagt, dass sie Hunger hat. Seit dem Morgen noch keinen Bissen im Mund. Sie durchwühlt ihr Ranzli. Aber plötzlich schleudert sie es auf den Rücken zurück. Sie hat entschieden, dass sie keinen Hunger hat.
    Dann holt sie tief Atem und erzählt. Ein Leben. Ihr Leben, wie sie sagt. Sie lässt aus. Sie erfindet. Die Erschütterungen beim Reden erfassen seinen Rücken.
    «Ich bin eine Zofe», sagt sie. «Die Zofe des Fräulein Reding aus Schwyz. Angesehen im Herrenhaus von Richter Joseph Anton Reding.»
    Sie klopft auf ihr Ranzli voller Empfehlungsschreiben. Sie sucht eine Herrschaft von Stand mit prächtigem Garten.
    Er hört zu. Stundenlang könnte er dieser gesungenen Rede lauschen.
    Magnus sagt, dass es einen Garten gibt, der keinem anderen gleicht. «Versailles heißt er. Sechstausend Hektar groß. Terrassen, Bäume, Kieswege, Blumen, Teiche. Eins hinter dem andern, immer weiter, bis zum Punkt, wo die Sonne untergeht. Der Garten kann nur bei vollem Ranzli abgeschritten werden.»
    Sie seufzt. Zupft von hinten an seinem Hemd. «Und wo soll dieses Versailles liegen?»
    Er bläst über die Feder. «Dort! Wo es schillert. Immer dem Glanz nach. In Richtung der Sonne, die im Wasser versinkt.»
    «Wie ist es: das Entdecken?»
    «Wenn du satt bist. So ist Entdecken. Wenn der Kaiser von China dich fragt, ob du etwas brauchst. Du antwortest: Nichts brauche ich. Ich habe alles.»
    Sie reibt ihren Rücken an seinem. «Und wie ist es, wenn man nichts mehr braucht?»
    «Dann bist du tot.»
    Er wendet sich ihr zu. An ihrer Schulter bemerkt er das Mal der Peitsche. In dieser Narbe ist zusammengefasst, was das Mädchen in seiner Erzählung ausgelassen hat.
    Er redet vom nie endenden Hunger.
    «Hinter dir liegt die Wüste. Die Spiegelungen dieser Wüste. Du hast es geschafft und sinkst an einen Quell. Ein Mädchen mit klirrenden, flirrenden Münzen am Schleier reicht dir das Fleisch einer gebratenen Ziege. Du streckst dich aus. Aber dann denkst du an Schiffe, an Namen anderer Länder und ziehst weiter. Durch Dörfer, Flüsse, über Steppengras, das in der Hitze knistert. Du meinst zu sterben vor Durst und Hunger. Dann geschieht das Wunder. Du erreichst ein Schiff. Du erreichst ein Land um das andere. Brichst auf, einmal übers andere.»
    Magnus verstummt, weil sein Blick auf das flache Ranzli fällt, das leer sein muss, vollkommen leer. Über dem Schlachtfeld hat der Himmel sich inzwischen lila gefärbt. Die Ferne ist rauchig blau. Es ist still, das Gejammer der Frauen hat aufgehört, die Vögel sind verschwunden.
    Anna Maria löst die Arme von den Knien. Ihre Hand tastet über das Rossfell, schiebt sich immer weiter, bis die Fingerspitzen das Bein von Magnus berühren. Dort kratzen ihre Nägel leise am Stoff.
    «Dieser Garten ist über die Maßen schön?»
    «Verschwenderisch.»
    Langsam tastet die Hand an seinem Bein hoch, umfasst seinen Schenkel. Er spürt den Druck ihrer Finger. Das Tanzen dieser Finger. Die Wärme der Kuppen.
    Er sagt: «Es ist der schönste Garten, den je ein Mensch gesehen hat. Der Garten ist das Geschenk eines Gottes an die Welt.»
    Ihre Hand liegt auf seinem Schenkel wie das Federgewicht eines Kükens. Erst als das Lila des Himmels zerronnen ist, rutscht die Hand an seinem Bein hinab, gleitet übers Ross zurück und umschließt wieder ihre Knie.
    Sie schweigen. Sie spüren eins das andere, Stunde um Stunde.
    Die Nacht bricht an. Die Toten sind nur noch dunkle Packen zerschlissenen Stoffs, die jemand weggeworfen hat.
    Mit einer jähen Bewegung zupft Magnus die Pfauenfeder vom Hut und wendet sich Anna Maria zu. Behutsam setzt er die Federspitze an ihren Brauenbogen, führt sie über den Nasenrücken zum Mund. Dann pinselt er ihren Namen an den Himmel. Darunter malt er seinen Namen in chinesischer Schrift. Damit es sie beide dort oben gibt. Damit eins das andere nie verliert.
    «Du richtest den Blick zum Himmel, und unsere Augen begegnen sich.»
    Sie legt die Hand auf die Lippen, damit die Zeichnung bleibe.
    Er sagt, dass er sie mitnehme. Dass sie sich niemals trennten. Sie schweigt.
    Als ein helles Zittern über den Schmelzpunkt von Himmel und Erde läuft und Magnus schläft, zieht sie das Seidentuch von ihrem Hals. Sie legt es um die Feder.
    Die Pfauenaugen sind auf sie gerichtet, als sie ihn verlässt.
     
     
    Einige Monate lang hört niemand von der Bitzenin.
    Dann taucht sie am Bielersee auf. Gibt sich als Tochter von Joseph Anton Reding aus. Sie ist

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