Die falsche Herrin
Halskrause der Redingin.
Anna Maria steigt in die Leventina ab, sie marschiert im Schutz der Wälder. Tagsüber schläft sie in einer Triste. Nachts zieht sie weiter und kaut auf einem Strohhalm. Fast unerreichbar ist das Euter einer Kuh, die Weiden sind umzäunt und bewacht. Die Bewohner schreien Zeter und Mordio, wenn nur schon von ferne eine Person auftaucht.
Sie bittet Gott um ein täglich Brot.
Sie stiehlt, wenn Gott ihr eine Möglichkeit dazu gibt. Ihr Geschick beim Aufbrechen von Türen bringt ihr mehr Nutzen als die Anrufung aller Heiligen im Himmel.
Jeder Schritt bringt sie dem Paradies näher. Die Wälder sind durchzogen von Schluchten, sie muss Felsen erklettern und reißende Bäche überqueren. Gefahr lauert hinter jedem Baum, jedem Fels. Mehr als einmal wird Anna Maria von Wegelagerern überfallen. Jeder will ihr Ranzli, und weil das Ranzli leer ist, meint jeder, sie verfluchen und schlagen zu müssen.
Sie stößt auf Söldner. Sie kochen einen Absud aus Eichenrinde gegen die Lustseuche. Kinder durchkämmen das Unterholz. Sie sind räudig wie Hunde. Ihr begegnen Bettler und Pilger. Sie huschen von Versteck zu Versteck. Alle wollen zum Papst, zu den Goldkuppeln, zu den großen Schiffen. Alle suchen ein Land, wo Milch und Honig fließt.
Die Bitzenin sei herumgezogen, ein flinkes, junges Mädchen mit rotseidenem Tuch um den Hals. Sei hier aufgetaucht, dort aufgetaucht, hat diesen Hochsitz zum Schlafen aufgesucht und in jenem Fluss die Blasen an den Füßen gekühlt, dort die Lumpen nach Wanzen abgesucht und mit dem Hut Wasser geschöpft, um es über den Rücken laufen zu lassen.
Ein Hirte will sie beobachtet haben. Eine abgezehrte, verschmutzte, scheue Halbwüchsige. Sie hat ihm leid getan, darum hat er nicht mit dem Stock gegen einen Stein geklopft, um sie zu vertreiben. Mit einer Drehung des Kopfs zum Hühnerstall hat er ihr erlaubt, Eier zu schlürfen.
«Ihre Gier war die einer Halbverhungerten.»
Danach begann das Mädchen zu reden. Bald sprudelte es wie ein Bach. Der Hirte hob beide Arme, zum Zeichen, dass er sie nicht verstand. Es machte dann Zeichen, deutete an, dass es arbeiten wolle fürs Essen. Aber er habe abgewinkt.
Da sei das Mädchen näher gekommen. Es habe gelacht. Es war schön, wie es gelacht hat. Weil er die Sprache nicht verstand, habe es eine Pantomime gemacht. Gegen den Gotthard hat es gezeigt, vorgemacht, wie es zusammensackt vor Müdigkeit und die Zunge heraushängen lässt.
«Es war also auf dem Gotthard gestanden und wusste nicht welche Richtung wählen. Hat dann die Sonne gewählt, weil es die Heiterkeit liebt, die Wärme. Und sich bis hierher durchgeschlagen. Gott weiß, wie!»
Immer wieder habe das Mädchen sein Geplapper unterbrochen, um ihrem Zuschauer mit Mimik und Geste die Geschichte verständlich zu machen. Diese sei immer länger geworden, immer ausführlicher. Was ihn gewundert habe, bei ihrem jugendlichen Alter. Hatte nichts im Ranzli, diese Halbwüchsige, aber trug auf der Zunge ein pralles, langes Leben. Hat es ausgeschmückt mit Licht und Finsternis, steil aufragenden Felsen, tödlichen Schluchten, Wildbächen, Räubern und Bluthunden. Seine Hände frisierten die Luft und glätteten Kleider. Das Mädchen war also Zofe bei einer hohen Dame jenseits des Gotthards.
Er hockte im Schneidersitz im Hühnerstall, und sie fegte durch Dreck und Federn. Der Haarschopf flog, der Rock schlingerte. Sie weinte. Sie schrie. Sie raufte sich das Haar, fiel in Verzückung auf die Knie und kugelte sich vor Lachen.
Er habe geklatscht. Und sie sich verneigt.
Der Hirt habe viel Kurzweil gehabt.
Die Kleine habe dann den Namen von Oberst Reding genannt. Und fragend geschaut. Ob er ihn kenne?
Ihm sei gewesen, als spalte ein Blitz den Himmel. «Nennt die doch den Namen des Teufels! Den Seelenhändler. Den Landsknechte-Schacherer.»
Der Hirt sprang auf, schleuderte seinen Stock zu Boden und stampfte schreiend darauf herum, bis er zerbrach. Das Mädchen sei fortgerannt. Es waren nur noch die verdreckten Fußsohlen zu sehen.
Das Paradies ist ein Ort, wo man Anna Maria nicht das Ranzli nimmt, nicht tobt, wenn sie freundlich spricht. Im Paradies wird sie mit offenen Armen empfangen und ohne Umschweife an den Tisch gebeten. Chriesibrägel alle Tage, den Mund voll Anken, und beide Hände bis zu den Knöcheln in Nidel getunkt. Schweineseiten hängen wie Blätter an den Bäumen.
Immer brennt ein Feuer. Auch sonst mangelt es einem dort an nichts.
Sie vagantet durchs
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