Die falsche Tochter - Roman
kurzärmeliges Hemd, und seine dichten, silberweißen Haare standen ihm wirr und ungezähmt vom Kopf ab.
»Du siehst ziemlich zufrieden aus«, sagte er. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen. »Hast du Ron Dolan getroffen?«
»Ich komme gerade von ihm.« Lana wirbelte noch einmal um die eigene Achse und lehnte sich dann an die Theke. »Du hättest mitkommen sollen, Roger, nur um sein Gesicht zu sehen.«
»Du springst zu hart mit ihm um.« Roger tippte mit der Fingerspitze auf Lanas Nase. »Er tut nur das, was er für richtig hält.«
Als Lana den Kopf schief legte und Roger kühl anblickte, lachte er. »Ich sage ja gar nicht, dass ich einer Meinung mit ihm bin. Der Junge ist ein Dickkopf, genau wie sein alter Herr. Er besitzt nicht genug Verstand, um sein Vorhaben noch einmal zu überdenken, obwohl er sieht, dass es in der Stadt zwei verschiedene Lager gibt.«
»Jetzt wird er es noch mal überdenken müssen «, erklärte Lana. »Es wird eine ganze Weile dauern, bis die ausführliche Untersuchung der Knochen abgeschlossen ist. Und wenn wir Glück haben, sind sie alt genug, um eine Menge Aufmerksamkeit zu erregen – nationale Aufmerksamkeit. Wir können
das Bauvorhaben monatelang verzögern, vielleicht sogar Jahre.«
»Dolan ist genauso stur wie du. Du hast ihn doch schon monatelang aufgehalten.«
»Er behauptet, das Bauprojekt bedeute Fortschritt für Woodsboro«, murmelte sie.
»Damit steht er nicht allein.«
»Allein oder nicht – es stimmt nun einmal nicht. Man kann Häuser nicht wie Mais pflanzen. Unsere Untersuchungen zeigen …«
Roger hob abwehrend die Hände. »Das brauchst du mir nicht zu erzählen.«
»Ich weiß.« Lana stieß die Luft aus. »Nach der archäologischen Auswertung werden wir mehr wissen. Ich kann es kaum abwarten. Und je länger das Bauvorhaben aufgehalten wird, desto mehr Geld verliert Dolan. Dafür haben wir umso mehr Zeit, Geld zusammenzubekommen. Vielleicht überlegt er sich ja doch noch, das Gelände an die Umweltschutzorganisation zu verkaufen.«
Sie schob sich die Haare aus der Stirn. »Lässt du dich von mir zum Mittagessen einladen? Wir können den Etappensieg feiern.«
»Warum lässt du dich nicht von einem jungen, gut aussehenden Mann zum Mittagessen einladen?«
»Weil ich mein Herz an dich verloren habe, Roger, vom ersten Moment an.« Das war noch nicht einmal besonders weit von der Wahrheit entfernt. »Weißt du was, vergessen wir das Mittagessen. Wir hauen einfach zusammen nach Aruba ab.«
Roger schmunzelte. Er hatte seine Frau im gleichen Jahr verloren wie Lana ihren Mann, und er fragte sich oft, ob das wohl der Grund war, warum so schnell eine tiefe Bindung zwischen ihnen entstanden war. Roger bewunderte Lanas scharfen Verstand, ihren Eigensinn, ihre tiefe Liebe zu ihrem Sohn. Manchmal ging ihm durch den Kopf, dass er irgendwo eine Enkeltochter in demselben Alter haben musste.
»Das würde aber die Gerüchteküche zum Kochen bringen,
was?«, sagte er schließlich. »Das wäre der größte Skandal, seit man damals diesen Methodistenpfarrer mit der Chorleiterin erwischt hat. Aber leider muss ich Bücher katalogisieren, die gerade hereingekommen sind. Ich habe keine Zeit für Mittagessen oder tropische Inseln.«
»Ich wusste gar nicht, dass du eine neue Lieferung bekommen hast. Gehört das dazu?« Lana nahm ein Buch in die Hand, und als er nickte, drehte sie es vorsichtig um.
Roger handelte mit seltenen Büchern, und sein winziger Laden glich einer kleinen Kathedrale. Es roch nach altem Leder, altem Papier und nach Old Spice, jenem Rasierwasser, das Roger jetzt schon seit sechzig Jahren benutzte. Ein Antiquariat war nicht gerade die Art von Laden, die man in einem Ort wie Woodsboro erwartete, aber Lana wusste, dass Rogers Kunden – wie seine Bücher – von weither kamen.
»Es ist wunderschön.« Sie fuhr mit dem Finger über den Ledereinband. »Woher stammt es?«
»Aus einem Besitz in Chicago.« In diesem Moment ertönte hinten aus dem Laden ein Geräusch. »Aber es ist mit etwas noch Wertvollerem gekommen.«
Lana sah, wie sich Rogers Gesicht vor Freude erhellte, und drehte sich um. In der Tür, die vom Laden zu der Wohnung im ersten Stock führte, stand ein junger Mann.
Er hatte ein markantes Gesicht, und seine dichten Haare, die bis zum Hemdkragen reichten, waren tiefbraun mit goldenen Lichtern darin. Die Augen waren ebenfalls dunkelbraun und wirkten im Moment ein wenig verdrießlich, ebenso wie der Mund des Mannes. Klug und eigensinnig, dachte Lana
Weitere Kostenlose Bücher