Die falsche Tochter - Roman
sie – er war der einzige, nicht mit ihr verwandte Mann, dem sie es erlaubte.
»Du siehst gut aus, Blondie.«
»Du siehst auch nicht gerade schlecht aus.«
»Wie war die Fahrt?«
»Grauenhaft. Hoffentlich hat es sich gelohnt, Leo.«
»Oh, ich glaube schon. Wie geht es deiner Familie?«, fragte er, während sie den Flur entlanggingen.
»Sehr gut. Mom und Dad kommen endlich mal für ein paar Wochen aus Dodge heraus und wollen Maine unsicher machen. Wie geht es Clara?«
Bei dem Gedanken an seine Frau schüttelte Leo den Kopf. »Sie hat angefangen zu töpfern. Du kannst dich schon einmal auf eine sehr hässliche Vase als Weihnachtsgeschenk einstellen.«
»Und die Kinder?«
»Ben spielt mit Aktien und Fonds herum und Melissa versucht, Mutterschaft und Zahnarztpraxis unter einen Hut zu bringen. Wie ist so ein alter Goldgräber wie ich nur an so normale Kinder gekommen?«
»Das liegt nur an Clara«, erklärte Callie.
Leo öffnete eine Tür und ließ sie eintreten.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass er mit ihr in eines der Labors
gehen würde, aber stattdessen fand sie sich in seinem sonnigen, gut eingerichteten Büro wieder. »Ich hatte ganz vergessen, wie schick dein Büro ist, Leo«, sagte sie. »Verspürst du nicht trotzdem manchmal den brennenden Wunsch, wieder aufs Feld zu gehen und zu graben?«
»Oh, ab und zu überkommt es mich schon. Für gewöhnlich lege ich mich dann ein bisschen hin und warte, bis der Anfall vorbei ist. Aber dieses Mal … Komm, sieh dir das mal an.«
Er trat hinter seinen Schreibtisch, schloss eine Schublade auf und nahm eine versiegelte Plastiktüte mit einem Knochenfragment heraus.
Callie hängte ihre Sonnenbrille mit einem Bügel in den Ausschnitt ihres T-Shirts, nahm die Tüte entgegen und musterte das Knochenstück. »Sieht aus wie der Teil eines Schienbeins. Der Größe und Beschaffenheit nach zu urteilen, stammt es wahrscheinlich von einer jungen Frau. Sehr gut erhalten.«
»Was schätzt du, wie alt er ist?«
»Es stammt aus dem westlichen Maryland, nicht wahr? Aus der Nähe eines Baches. Du weißt doch, dass ich nicht gerne schätze. Hast du Erdproben und den stratigraphischen Bericht?«
»Ach komm, Blondie, du sollst es ja nur ungefähr schätzen.«
»Du liebe Güte!« Stirnrunzelnd drehte Callie die Tüte um. Sie hätte den Knochen gerne angefasst. Ungeduldig wippte sie mit dem Fuß. »Ich kenne den Boden nicht. Von der rein visuellen Schätzung her würde ich sagen, er ist ungefähr drei- bis fünfhundert Jahre alt. Könnte auch älter sein, je nach den Schlammablagerungen und dem Grundwasser.«
Als sie den Knochen erneut umdrehte, meldete sich ihr Instinkt. »In der Gegend hat doch der Bürgerkrieg getobt, oder? Aber der Knochen ist älter. Er stammt nicht von einem Soldaten der Rebellen.«
»Er ist allerdings älter, als du glaubst«, stimmte Leo zu. »Um ungefähr fünftausend Jahre.«
Callie blickte überrascht auf und sah, dass Leo sie angrinste.
»Bestimmt mit der Radiokarbonmethode«, sagte er und reichte ihr eine Aktenmappe.
Sie überflog die Seiten, wobei sie feststellte, dass Leo den Test zwei Mal mit drei verschiedenen Geländeproben hatte machen lassen.
Als sie den Kopf wieder hob, grinste sie genauso breit wie er. »Heiße Sache«, sagte sie.
2
Auf dem Weg nach Woodsboro verfuhr sich Callie. Leo hatte ihr zwar den Weg erklärt, aber als sie danach die Karte studiert hatte, war ihr eine Abkürzung aufgefallen. Jedenfalls hätte es eine Abkürzung sein sollen, dachte sie, jeder logisch denkende Mensch hätte es als solche betrachtet, und die Kartografen sollten eigentlich logisch denken können. Callie stand mit Kartografen auf Kriegsfuß. Es machte ihr jedoch nichts aus, dass sie sich verirrt hatte, denn durch den Umweg lernte sie zumindest die Gegend kennen.
Sie fuhr an Kornfeldern vorbei, aus denen hier und da silberfarbene Felsen wie verkrüppelte Finger ragten. In einiger Entfernung konnte man die zerklüfteten Umrisse der Berge erkennen. Beim Anblick der Landschaft stellte sich Callie vor, wie die Bauern in längst vergangenen Zeiten mit ihren primitiven Werkzeugen diesen felsigen Grund bearbeitet hatten, um das Überleben ihrer Familien zu sichern. Die Sonne lugte über die Hügel und warf einen goldenen Schein über die Felder, auf denen der Mais bereits hüfthoch stand. Hier und da standen vereinzelte Häuser und Gehöfte aus Stein oder Holz, neben denen Kühe auf eingezäunten Weiden grasten. Nach einer Weile gingen die Felder in ein
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