Die Falsche Tote
Glastür aufdrückte, die die Räume der Gruppe vom Gang abtrennte, roch er frischen Kaffee. Er warf einen Blick in sein Büro, das er sich mit Sofi teilte, und in das von Henning und Barbro. Sogar der Besprechungsraum war leer und auch die Strahlenhölle, wie sie die winzige Kammer nannten, die nur Sofi je betrat. Darin arbeitete ihr bester Freund, der Zentralrechner, vor sich hin.
Kjell sah auf die Uhr. Für die erste Besprechung nach dem Tatort gab es meist nur eine grobe Uhrzeit, weil davor jeder einiges zu erledigen hatte. Im Besprechungsraum goss er sich eine Tasse Kaffee ein und nahm am Tisch Platz. Sofi hatte das Dossier bereits fertig und einen Stapel Kopien auf den Tisch gelegt. Ein Brummen riss ihn aus der Lektüre. Sofi stand mit ihrer Ultraschallzahnbürste im Mund in der Tür und sah ihn erstaunt an.
»In zehn Minuten!«, gurgelte sie und verschwand auf die Toilette.
Obwohl sie erst vor Kurzem zur Gruppe gestoßen war, hatte sie sich offenkundig schon gut eingelebt, musste Kjell zugeben. In Momenten wie diesem stellte er sich Sofi als Streifenpolizistin vor. Das kostete ihn einige Mühe, weil es die Aufgabe der Schutzpolizei war, die Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen. Sofis Wesen war in die Gegenrichtung ausgelegt.
Während sie noch am Anfang stand, hatte man Henning Larsson an seinem früheren Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei in der Mariawache längst abgehalftert, als der neue Reichskriminalchef Sten Haglund eine neue autonome Ermittlungsgruppe ins Leben rief. Larsson sei weder teamorientiert noch multitaskingfähig, hatte Hennings Chefin behauptet. Begeistert hatte Kjell ihn gleich mitgenommen und es seitdem keine Sekunde lang bereut. Acht Tage, bevor Henning Larsson an die Spitze der schwedischen Polizei befördert wurde, hatte sich seine Frau von ihm getrennt, nachdem sie sich fünfundzwanzig Jahre lang mehr vom Leben und von Henning erhofft hatte. Sie war gegangen, um mit einem Fahrkartenschaffner von der Tvärbana zusammenzuleben und um ihren Lebensunterhalt zu halbieren statt zu verdoppeln. Die Zeit war eben ein langes durchhängendes Seil, dachte Kjell, und ab und zu war ein dicker Knoten darin. Henning war als unermüdlicher Wühler und genialer Aktenführer für ihn unverzichtbar, und inzwischen benutzte Barbro ihn in der Freizeit auch als Bamsebär.
Auch sie war in ihrer ehemaligen Abteilung havariert, weil sie sich geweigert hatte, sich von Sten den schlappschwänzigen Tove Alfvén als neuen Chef vor die Nase setzen zu lassen. Das nahm Sten Barbro immer noch übel, aber Barbro ließ solcher Ärger kalt. Ihr Vater hatte sich nur für das Großunternehmen, das er selbst von seinem Vater bekommen hatte, erwärmen können, nicht aber für seine Tochter. Trotz einer beunruhigenden Risikoanalyse von fünfzig Prozent war er nach ihrer Geburt doch geschockt gewesen, dass Barbro ein Mädchen war. Dafür aber konnten sich andere Männer für Barbro erwärmen. Davon hatte sie sich selbst jahrelang jede Nacht überzeugen müssen. In dieser Zeit hatte sie auch ihre Gelassenheit entwickelt, oder besser, sie sich wie eine feuerfeste Schürze übergezogen, und trug sie seitdem ständig vor sich her.
Sofi kehrte in den Besprechungsraum zurück und kramte in ihrer Tasche, die unbemerkt neben Kjell auf dem Stuhl gelegen hatte. Unter den Kleidungsstücken, die beim Wühlen zutage kamen, sah Kjell weiße Schuhe aufblitzen.
»Du machst Ballett?«
Statt zu antworten, zog sie den Reißverschluss ihrer Tasche mit einem lauten Ratschen zu. Jetzt hatte er also nach acht Wochen schon das dritte ihrer neunundneunzig Geheimnisse herausbekommen, die anderen beiden waren auch Zufallstreffer gewesen. Sie verbarg sie nämlich sehr geschickt. Sofi konnte sich natürlich denken, dass er sich um ihre Vergangenheit gekümmert hatte, bevor er einer so unerfahrenen Polizistin dazu verhalf, fünfzehn Jahre Dienstzeit zu überspringen und mit Mitte zwanzig bei der Reichsmord zu arbeiten. Sie war von komplexer Herkunft, vom Vater hatte sie nur das schwarze Haar, das jedes Licht verschluckte, und hartnäckiges Nachfragen geerbt. Nach ihrer Geburt hatte die Mutter ihre Anstellung als Reichstagsstenografin in Stockholm gekündigt und war nach Karlstad in Westschweden zurückgekehrt. Auch Sofi schrieb schneller als der Wind. Wie sie das gelernt hatte, war Kjell jedoch ein Rätsel. Sie war acht gewesen, als man die Mutter in ein Sanatorium hatte bringen müssen. Sofi verschlug es zu Pflegeeltern, einem älteren
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