Die Falsche Tote
suchen landesweit nach ihm. Aber in seiner Wohnung gibt es keinen Hinweis darauf, wo er stecken könnte.«
Kjell und Sten sahen sich an.
»Der Vater weiß nicht, wo er ist«, sagte Sten nach einigem Schweigen. »Allerdings muss das wohl nichts heißen. Er weiß meist nicht, was sein Sohn treibt.«
»Und das Geld? Was ist mit dem Geld?«
Sofi blickte Kjell ratlos an. Die Laborergebnisse waren noch nicht fertig.
»Das muss von außerhalb kommen«, sagte sie. »Sie hat bei ihrer Bank keinen Zugang zu einem so hohen Betrag.«
»Kein Selbstmord, was meint ihr?« Henning blickte in die Runde.
»Eine Privatsache?«, tippte Barbro.
Kjell schüttelte den Kopf.
»Weil der Bruder auch verschwunden ist? Der kann auch verreist sein. Oder wegen des Geldes?«
»Das ist es nicht«, überlegte Kjell. »Eher die Tatsache, dass es keine Spur vom Eindringling gibt und die Kaltblütigkeit, sofort zu klingeln und es durchzuziehen, sobald die Isländerin die Wohnung verlassen hat. Das ist eher professionell.«
6
Lange nachdem alle gegangen waren, goss sich Sofi im Aufenthaltsraum ein großes Glas Cola ein. Sie musste nicht nach Hause, sie hatte ja Sachen hier! So war sie immer vorbereitet. Mit dem Glas in der Hand schlenderte sie durch die Räume. Schlafen konnte sie jetzt nicht. Gerade zweimal hatte sie die Übungsstunde besucht. Die anderen Anfänger hatten auch ein Alter erreicht, wo man eigentlich nicht mehr mit dem Tanzen begann. Die Lehrerin sprach nie von Ballett, sie sprach immerzu von Tanz. Noch öfter sprach sie allerdings von Haltung, die dürfe man nie verlieren, vorausgesetzt natürlich, man hatte überhaupt eine. Dazu bedurfte es jahrelangen Trainings und einer ständigen Ausrichtung an der Vertikalachse des Raumes. Die übrigen Menschen verschwendeten keinen Gedanken daran, sich an der Vertikalachse des Raumes auszurichten, besaßen daher auch keine Haltung, ja, zählten mit Mühe und Not noch zu den Wirbeltieren. Das meinte die Lehrerin Anna Issaro ganz ernst. Wer ein Training verpasse, müsse so gut wie von vorn beginnen. Obwohl das in Sofis Fall ja noch zu verkraften war, schlüpfte sie in ihre Schuhe und nahm dann im Aufenthaltsraum die erste Position ein. An der Arbeitsplatte ihrer kleinen Küche klappte das ganz gut.
Lasse hatte sich nicht bemerkbar gemacht und stand einfach nur da. Sofi verlor ihre Haltung. Er konnte eben erst gekommen sein oder schon eine halbe Stunde im halbdunklen Gang stehend zugeschaut haben.
»Habt ihr was gefunden?«, fragte Sofi.
Lasse nickte und trat herein. Sofi wischte sich das Gesicht mit dem Handtuch ab. Sie hätte nie geglaubt, wie anstrengend das sein würde.
»Der Zettel muss tatsächlich länger dort gelegen haben.«
»Habt ihr Fingerabdrücke gefunden?«
»Geringe Fragmente nur. Wir könnten sie zuordnen, aber dafür müssen wir sie nach Wales schicken. Dauert mindestens einen Monat.«
Er sah sie fragend an.
Sofi schüttelte den Kopf. »Ich frage erst Kjell.«
»Es ist ein Computerausdruck, aber nur zwei Zeilen lang. Ein übliches A4-Papier, der unbedruckte Rest wurde mit einer Schere abgetrennt und der Streifen dann dreimal gefaltet. Aisakos. Kennst du einen Dichter mit dem Namen Aisakos?«
Lasse zog den Fotoausdruck des Zettels aus dem grünen Aktenkuvert und überreichte ihn Sofi.
»Mag er kommen!«, stand da. »Dich schützt Artemis! Aisakos.«
7
Freitag, 3. August
Kjell richtete sich im Bett auf und blickte aus dem Fenster. Die Westspitze von Långholmen lag in dichtem Morgennebel. Doch von rechts glitzerte schon das Sonnenlicht auf dem Wasser. Das Bett stand direkt am Fenster seines winzigen Schlafzimmers. So konnte man im Sommer schön braun werden, wenn man sich am Nachmittag ein, zwei Stunden gönnte.
Sein Herz schlug schnell vor Anspannung, doch über dem Rest seines Körpers lag die Mattigkeit von viel zu kurzem Schlaf. Nur drei Stunden waren möglich gewesen. Auf dem Weg zum Bad vergewisserte er sich, dass er nicht verschlafen hatte.
Nach zwanzig Minuten stand er geduscht und angezogen in der Küche. Linda musste um neun Uhr in der Kunsthochschule sein. Obwohl bis dahin noch viel Zeit war, wollte er sie lieber gleich wecken und noch ein wenig mit ihr sprechen, damit sie sich nicht so allein fühlte. Die wochenlange Vorfreude hatte sich längst in Unbehagen und Selbstzweifel verwandelt. In einer neuen Gemeinschaft tat sie sich immer schwer, vor allem in diesem Fall, wo die anderen nicht nur älter und besser waren, sondern sich auch schon lange
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