Die Falsche Tote
Höhenkamms erreicht. Es war richtig gewesen, darüber zu laufen und nicht dem Ufer zu folgen, wo der Fels inzwischen so steil ins Meer abfiel, dass eine Umkehr nicht zu verhindern gewesen wäre. Wie immer gab das Luftbild eine sanfte Fläche vor, doch in Wahrheit war Yxlö ein schroffer und zerklüfteter Fels, der viel weiter bis nach Süden bewaldet war, als Sofi geglaubt hatte. Zwischen den Bäumen zwangen nasses Moos und Farn sie dazu, jeden Schritt mit Sorgfalt zu planen. Von diesem Bodenbewuchs war auf der Luftaufnahme nichts zu sehen gewesen. Sie mussten eine Schlucht bewältigen. Beim Abstieg riss Henning das ganze Moos und morsche Wurzeln mit sich hinab.
Doch dann lichtete sich der Wald, viel später als erwartet. Vor ihnen fiel das Steinplateau sanft ab. Der unbewachsene Felsboden leuchtete silbern.
»Weißt du noch, was du über Athene gesagt hast?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Kjell keuchend. »Sie ist die Göttin des Mondes und des Waldes.«
»Mich schützt Artemis«, sagte Sofi.
Sofi sah das Meer als schwarze Fläche. Von dort blies ihr warmer Wind ins Gesicht. Am Horizont ballten sich Lichter zu einem großen Haufen. Das war Nynäshamn am Festlandufer. Es wirkte zum Greifen nah. Das Mondlicht ließ den Felsboden so hell leuchten, dass sie inzwischen marschieren konnten, ohne bei jedem Schritt auf den Grund achten zu müssen. Auf einmal fiel das Plateau steil ab. Kjell war einen Schritt vor ihr und breitete die Arme aus.
»Da ist es! Wir sind genau richtig.«
Sofi machte noch zwei Schritte. Unter ihnen lag aber noch gar nicht das Wasser. Sie standen direkt über der Schüssel, die dort unten auf dem breiten Vorsprung errichtet worden war, damit der Fels die Strahlung abfing. Sofi hatte nicht geglaubt, dass die Schüssel so riesig sein würde, und bekam eine Gänsehaut, einerseits vor Bewunderung, aber auch, weil sie sich neben so großen Dingen unbehaglich fühlte, wenn sie sie nicht schon lange kannte oder selbst gebaut hatte.
Das Mondlicht gab all den grauen Dingen dieselbe gelbliche Nuance, dem unbewachsenen Fels und auch dem Metall. Es war, als stünden sie selbst auf dem Mond, denn um die Insel herum war das Meer so finster, dass man den Horizont nicht ausmachen konnte.
»Da steht jemand«, flüsterte Henning und deutete hinab. Kjell und Sofi mussten sich auf dem steil abfallenden Hang ein wenig zu Henning bewegen, damit sie die Gestalt zwischen dem Gestänge unter der Schüssel sehen konnten. Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt und sich an den Betonsockel gelehnt.
Henning hatte als Einziger ein Gewehr. Er legte es an. »Das ist ein Mann.«
Kjell kletterte wieder ein Stück hinauf. Sofi folgte ihm nach einiger Zeit und fand ihn mit dem Telefon am Ohr.
»Der Hubschrauber macht einen Überflug. Mal sehen, wie er darauf reagiert.«
Sie kletterten wieder zu Henning. Der Mann hatte begonnen, auf und ab zu gehen. Er rauchte. Von hier oben sah es aus, als hätte er keine Haare auf dem Kopf.
Sie warteten. Nach einigen Minuten näherte sich das Rattern vom Meer, veränderte seinen Klang und wurde lauter und zu einem Schmettern, aber es war schwer, die Richtung auszumachen, aus der sich der Hubschrauber näherte. Der Mann blickte zum Himmel. Auf einmal nahm der Hubschrauber Gestalt an. Er stand über dem Meer in der Luft und war unbeleuchtet. Der Mann riss den Arm in die Höh. Der Knall war kaum zu hören. Sofi musste ihre wehenden Haare loslassen und sich die Ohren zuhalten, als der Hubschrauber über sie hinwegflog und über der Insel verschwand.
Henning legte wieder das Gewehr an und zielte. Schießen würde er ohne Absprache nicht. Er wollte mit dem Visier mehr über den Mann herausfinden, der jetzt so aufgeregt am Ufer auf- und abging, dass Henning mit dem Gleichgewicht auf dem schrägen Untergrund kämpfte und bald genug hatte. Sofi verlangte das Gewehr. Der Blick durch das Visier übertraf ihre Erwartung.
»Wie ein Mondfilter«, sagte sie zu Kjell. Kjell wusste natürlich nicht, was das war. »Eine grüne Linse, die man ans Teleskop schraubt, wenn man den Mond betrachtet. Dadurch werden die Krater deutlicher.« Sofi hatte jetzt wirklich das Gefühl, auf dem Mond zu stehen. Der Mann hielt etwas in der Hand, auf das er seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Sofi reichte Henning das Gewehr, und auch er vermutete, dass es ein Telefon war.
Kjell zog sein Telefon aus der Brusttasche und drückte eine Taste. In diesem Moment geschah etwas Unerwartetes. Sofi schrak so zusammen, dass
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