Die Falsche Tote
Barbro übernahm wie immer die Familie.
»Rosenfeldt ist ein Emporkömmling, wie man das bei uns am Strandvägen nennt.«
»Wo inzwischen alle Emporkömmlinge wohnen«, meinte Henning, der sich gerade wie an jedem Morgen aus seinem Anorak quälte. Den trug er zu jeder Jahreszeit.
»Mein Vater sagt, dass man seine Ernennung in Regierungskreisen schon nach wenigen Wochen bereut hat.«
Das konnten sich alle vorstellen. Die Regierung ernannte zwar den Justizkanzler, aber nur er selbst entschied, wann es Zeit war zu gehen. Normalerweise suchte man einen gemäßigten Kandidaten aus, der vielleicht noch höher hinauswollte. So stellte man sicher, dass er sich in diesem Amt, wo er unabhängig und recht einflussreich war, nicht wie ein Wilder benahm. Rosenfeldt war ein Wilder. Niemand hatte ja ahnen können, dass er auch wirklich tat, was ein Justizkanzler dem Grundgesetz nach tun sollte. Erst vor Kurzem hatten sich drei hochrangige Persönlichkeiten des schwedischen Rechtssystems in Dagens Nyheter dafür ausgesprochen, dass der JK untragbar für die Rechtssicherheit sei, weil er den Gerichten und der Polizei eine Rechtshybris attestiert hatte.
»Er hat also mehr Feinde als Fidel Castro«, sagte Henning.
»Aber auch viele, die ihn lieben, wir Frauen zum Beispiel.«
Sofi nickte.
»Sogar Linda«, fügte Kjell hinzu. »Er hat alles, was ein Mann haben muss, hat sie gesagt.«
»Vielleicht sollte sie dieses Urteil lieber Frauen überlassen, die schon einmal einen Mann nackt gesehen haben«, erwiderte Barbro.
Kjell verschränkte die Arme. »Zum Glück interessiert uns das alles nicht, unsere Aufgabe ist Josefins Privatleben.«
Doch das fand man leider nicht in Dagens Nyheter. Ein großer Teil dieser Wühlarbeit fiel immer Henning zu. Es war noch nie passiert, dass Henning dabei etwas übersah, jedenfalls gab er Kjell dieses Gefühl, weil er immer den Haken an der Sache fand. Zusammen mit Sofi wollte Kjell die Szenarien entwerfen.
Barbro gähnte und streckte sich. »Zuerst muss ich mir mal Oskars Wohnung anschauen.«
»Gibt es denn vom Vater einen Hinweis, wo Oskar stecken könnte?«, wollte Kjell wissen.
»Den finde ich schon.« Barbro gähnte noch einmal.
Kjell dachte daran, dass sie außer einem Zettelkasten bisher nichts gefunden hatten, was über das Leben von Josefin Auskunft gab. Die Zettel enthielten vor allem Notizen aus dem Studium. Darum mussten sie sich zuerst kümmern, solange man die Familie nicht fragen konnte. Vielleicht wusste man in der Universität, mit wem Josefin Umgang hatte. »Wir müssen etwas Persönliches finden«, sagte er.
»Wollt ihr wissen, was auf dem Zettel steht?«
Alle starrten Sofi an. Sie öffnete ihre Mappe und drehte sie den anderen zu. »Aisakos klingt griechisch, oder?«, fand sie, nachdem alle den Text gelesen hatten und einander ansahen. »Ein Dichter, vielleicht. Oder ein Philosoph.«
»Ist Lasse wirklich sicher, dass es nicht erst seit gestern Abend dort gelegen hat?«
Sofi nickte. »Wie erwartet gibt es nur Fragmente von Fingerabdrücken. Das Papier des Umschlags ist einfach zu rau. Der Zettel ist besser, aber er wurde nur ganz am Rand angefasst. Wahrscheinlich wurde mehrmals darübergestrichen.«
»Immerhin«, brummte Henning. »Sieht nicht so aus, als wären die Abdrücke bewusst vermieden worden.«
»Aisakos ist weder Dichter noch Philosoph«, sagte Kjell und versuchte sich daran zu erinnern, was er bei seinem Studium der klassischen Literatur darüber gelernt hatte. Er tippte auf Ovids Metamorphosen. »Er ist irgendein Halbgott aus der griechischen Mythologie. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er sich in eine Nymphe verliebt. Sie war aber Single und geriet sogleich in Bindungsängste. Beim Davonlaufen wurde sie von einer Schlange gebissen.«
Aus irgendeinem Grund blickten alle auf Barbro.
»Und der Satz?«, wollte Sofi wissen.
Kjell hatte sich den Ausdruck vorgenommen und starrte darauf. Es kam ihm bekannt vor. Mag er kommen. Dich schützt Artemis. Woher stammte das nur? Er wäre nie ein guter Altphilologe geworden, weil ihm etwas fehlte, was Altphilologen assiduitas legendi nennen, was nicht mehr als ›hinsetzen und lesen‹ bedeutete, von der Altphilologie selbst aber wesentlich aufwendiger übersetzt wurde. Ihm fehlte also die Bereitschaft, dem Lesen allen Raum in seinem Leben zu überlassen. Für jemand, der aufstehen und denken wollte, war die Altphilologie nicht das Richtige gewesen.
»Theokrit vielleicht. Bukolische Poesie. Es könnte aus einem
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