Die Falsche Tote
aber dennoch hatte er genau diese Erscheinung in seinen Jahren als Ermittler immer wieder beobachten können. Für ihn war es das wesentliche Prinzip, nach dem die Wirklichkeit komponiert war. Leider erkannte er es immer erst am Ende einer Ermittlung - oder einer Romanze -, wenn alles offen lag, denn die anerzogene Logik brachte einen immer wieder dazu, solche Hinweise als unwahrscheinlich oder zufällig abzutun. Deshalb hatte er in das Handbuch für die Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen, an das sich alle Ermittler in Schweden halten mussten, eine neue Regel eingefügt. Sie lautete knapp »1 + 1 = 11«, und ebenso knapp war Barbros Lachen gewesen, als sie es gelesen hatte.
»Bist du bereit für die fünf Fragen?«
»Jetzt schon?«
Er nickte. Sie auch.
»Was ist geschehen?«
Das wollte er immer zuerst von ihr wissen.
»Eine junge Frau fällt aus dem Fenster. Kurz davor hat es an der Tür geklingelt. Jemand ist bei ihr gewesen.«
»Wie ist es geschehen?«
»Der Eindringling hat sie gestoßen. Oder geworfen.«
»Sicher?«
»Nein. Er kann sie mit einer Waffe bedroht haben. Sie hat sich zurückgezogen und ist über die Brüstung gestürzt. Oder er hat sie mit einer Waffe genötigt. Damit sie springt.«
»Das kannst du vergessen. Das gibt es nur in Krimis oder im Western mit der Das-Grab-selber-schaufeln-lassen-Variante.«
Sofi notierte und sprach dabei. »Ausweglosigkeit. Weißt du, was das ist?«
»Ich wohne immerhin mit Linda zusammen.« Kjell dachte an seine Tochter und fragte sich, wie es ihr gerade erging. »Die Tatorttechniker behaupten, dass die Höhe des Geländers es nicht zulässt, dass ein Mensch dieser Größe und mit diesem Gewicht über das Geländer kippt. Ihr Schwerpunkt liegt zu tief.« Er gab Sofi etwas Zeit zum Schreiben. »Hast du alles? Kann ich die nächste Frage stellen?«
»Ich habe ›Nötigung‹ und ›Ausweglosigkeit‹.«
»Schreib noch ›Erwartung‹ dazu. Frage drei. Warum ist es geschehen?«
»Das wissen wir nicht.« Sie schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen.
»Wer war der Täter?«
»Auch nicht.«
»Hat sie ihn gekannt?«
»Wenn es ein professioneller Mord war. Weiß nicht. Sie kann die Bedrohung gekannt haben. Hast du das mit ›Erwartung‹ gemeint?«
»Sie hat die Bedrohung gekannt. Da kannst du sicher sein. Fünf. Was ist jetzt?«
Durch die Antwort auf diese Frage war man in vielen Fällen schon am Ziel. Sofi schwieg, entdeckte den Strohhalm ihres halb leeren XL-Erdbeer-Splashs und sog daran. Das sah Kjell als Ausdruck dafür, dass sich der Weg hier gabelte.
»Wen wollte der Mörder überhaupt umbringen?«, fragte sie.
In der Tat, dachte Kjell. Der Kardinalfragenkatalog des Handbuchs zur Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen der Reichsmordkommission hatte diesen Fall nicht berücksichtigt. »Es gibt zwei Arten des Profimordes. Leiche weg oder Selbstmord. Hier der inszenierte Selbstmord. Also noch mal, wer sollte sterben?«
»Josefin. Die Doppelgängerin kann nicht das Ziel gewesen sein. Sonst wäre dem Mörder doch klar gewesen, dass wir rasch erkennen, dass die Tote nicht Josefin ist.«
Kjell nickte bedächtig. »Was gibt es für einen Grund, Josefin zu töten?«
Auf Sofis Stirn und am Hals glänzte Schweiß. »Was gäbe es für einen Grund, die Doppelgängerin zu töten?«
Ihm fiel lange keine Antwort ein. »Über die Tote wissen wir nur zweierlei. Sie ist eine Frau, und sie ist jung. Nenn mir ein Motiv.«
Sofi stützte ihre Ellenbogen auf die Holzplatte und spreizte ihre Finger in die Höhe. »Rache?« Erst wollte sie mit den Augen das Gesicht ihres Chefs nach einer Reaktion auf ihren Vorschlag absuchen. Da war aber keine Reaktion. »Die Tote ist die Kopie. Das Original ist verschollen. Wir brauchen nur Josefin zu finden. Dann wissen wir alles.«
»Am Anfang warst du dir ganz sicher, dass noch jemand in der Wohnung war«, brachte Kjell in Erinnerung.
»Durch den Nachbarn. Wir glauben ihm.«
»Und ohne den Nachbarn?«
»Dann hätten wir einen Selbstmord vermutet.«
»Wie ist dieser Eindruck entstanden?«
Sofi grinste. »Durch die Isländerin.«
»Weiß sie von dem Nachbarn?«
»Nein.«
»Dann trink aus.«
11
Die dreiunddreißigjährige Inspektorin Barbro Setterlind stöckelte durch den Hinterhof der Repslagargatan 13 in Södermalm. Sie musste mit ihren Schuhabsätzen auf dem Kiesboden achtgeben. Mit dem Notizheft fächelte sie sich Luft ins Gesicht. Bald ging es auf Mittag und dreißig Grad zu.
Die Zeit hatte mit all ihrer Liebe hübsche
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