Die Falsche Tote
allein angekommen, hatte mit keinem gesprochen und war am Ende allein in den Flughafenbus nach Stockholm gestiegen. Der Busfahrer, bei dem Josefin eine Fahrkarte gekauft haben musste, und auch der Mann, der das Gepäck einlud, hatten sich natürlich an nichts mehr erinnern können. Wenn man nur wüsste, wo sie ausgestiegen war. Die Transferbusse hielten zwischen Flughafen und Stadt ja an so gut wie jeder Kreuzung. Auszuschließen war nur, dass Josefin am Centralbahnhof, der Endstation, ausgestiegen und zur U-Bahn gegangen war. Henning hatte auch diese Videoaufzeichnungen überprüft. Deshalb war anzunehmen, dass sie schon am Sankt-Eriksplan ausgestiegen sein musste. Das lag ganz nah bei ihrer Wohnung.
Das nächste Thema war Sofis Besuch bei der Dozentin.
»Die Dozentin weiß nicht, ob Josefin Griechisch konnte. In ihrer Arbeit gibt sie Zitate auf Englisch wieder. Es ist allerdings üblich, dass man nur Übersetzungen liest, weil die meisten kein Griechisch mehr können. In der Schule hat sie es jedenfalls nicht gelernt.«
Sofi zog einen Zettel hervor und schob ihn zu Kjell. Dort hatte die Dozentin zwei Stellen notiert: Or 1648 ff und El 1258 ff.
»Orest und Elektra«, sagte Kjell. »Da geht es um den Areopag.«
»Ja, das sollen Belegstellen sein. Josefin hat sich vor allem mit dem frühen Areopag beschäftigt, also seit der Gründung bis zu … Effialtes oder so ähnlich.«
»Er leitete die letzte Stufe der Demokratisierung ein«, sagte Barbro.
»Jedenfalls schreibt sie viel über den Ursprung des Areopags, das Wort hat die Bedeutung ›Hügel des Ares‹, und eine Verbindung zu den Amazonen gibt es auch, aber das habe ich nicht mehr im Kopf.«
»Willst du auf das Poster hinaus?«, fragte Kjell.
»Anscheinend gab es in dem Gebäude auch einen Altar für die Erinnyen. Dorthin konnte man vor ihnen fliehen. Es war eine Art Asyl.«
»Das mit den Rachegöttinnen ist eine zu naheliegende Verbindung«, sagte Kjell kopfschüttelnd. »Die tauchen ja in unseren Texten gar nicht auf. Ich habe die Texte sehr sorgfältig gelesen, und dabei ist mir etwas aufgefallen. Etwas stimmt damit nicht. Es ist das Metrum, das nicht mit dem Original übereinstimmt, außer bei Hesperias Brief. Die schwedischen Zettel sind eigenartig.« Kjell sah auf und bemerkte, dass ihn alle ansahen. »Wer das ins Schwedische übersetzt hat, konnte entweder schlecht Griechisch oder kannte den Originalzusammenhang nicht.« Er sah, dass die anderen nicht recht folgen konnten, und das war kein Wunder. Sein Eindruck war selbst eher vage. »Ich habe sieben Übersetzungen zu Hause, darunter alle schwedischen. Die Aisakos-Übersetzung stimmt mit keiner überein. Ich vermute also, dass Aisakos den Text aus einer anderen Übersetzung ins Schwedische weiterübersetzt hat.«
»Hättest du das nicht gleich sagen können?«, unterbrach Barbro.
Kjell wollte aber, dass die anderen den Gedankengang verstanden, weil er noch eine andere philologische Entdeckung gemacht hatte. »Der Satzbau klingt unschwedisch. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass man den Satzbau des Originals übernimmt, vor allem, wenn es ein Versmaß gibt, aber hier ist das Versmaß nicht rein erhalten, und wenn ich es zurückübersetze, erhalte ich keinen griechischen Satzbau, also nicht die Originalversion.«
»Aisakos spricht also noch eine andere Sprache«, schloss Sofi ganz richtig.
»Nicht nur das. Schwedisch ist nicht seine Muttersprache. Wenn wir die Ausgabe finden, aus der er die Übersetzung hat, kennen wir sein Herkunftsland.«
»Und welches könnte das sein?«, fragte Barbro. »Immerhin hat jede Sprache einen charakteristischen Satzbau.«
»So genau kann ich es nicht sagen, aber die meisten Übersetzungen findet man im Deutschen, im Englischen und im Französischen.«
Henning kratzte sich an der Wange. »Josefin hat Freunde in Saint Malo. Aber Rosenfeldt glaubt zu wissen, dass es nur harmlose Bekanntschaften sind, die schon seit der Kindheit bestehen.«
»Ist sie nicht unerwartet abgereist?«, warf Barbro ein.
»Ja, aber allein.«
»Aber sie kann die Zettel doch in Frankreich bekommen haben. Irgendein Jean-Luc könnte in sie verliebt sein.«
»Josefin spricht fließend Französisch«, entnahm Henning seinen Notizen. »Beherrscht ein Franzose so weit Schwedisch, dass er diese Verse ins Schwedische übersetzen könnte? Das ist doch unwahrscheinlich.«
»Es müsste zudem jemand sein, der sehr gut Schwedisch spricht«, glaubte Kjell. »Immerhin ist unser Satzbau nicht leicht
Weitere Kostenlose Bücher