Die Falsche Tote
Barbro zu ihrer Bildung. »Und sie ist die Göttin des Mondes und des Waldes.«
Henning hob die Hand. Er war noch nicht fertig gewesen. »Die Gleichzeitigkeit ist nicht zufällig, wie du annimmst. Wenn Artemis also vor der Liebe schützen soll und nicht vor einem Profikiller, dann haben wir ebenfalls zwei Männer in dieser Rechnung, die sonst keiner kennt: Aisakos, der Verfasser des Briefes, und den mit Entjungferung drohenden Eros.« Henning befeuchtete die Spitze seines Zeigefingers und blätterte in seinen Unterlagen. »Vater und Bruder sind sich sicher, dass Josefin schon einmal intimen Kontakt zu Männern hatte, bei der Toten liegt uns ein Attest vor. Sie war keine Jungfrau mehr.«
»Was willst du sagen?«, fragte Barbro.
»Dass die Briefe auf jeden Fall etwas bedeuten, wenn es Briefe sind. Und dann haben wir ja noch den Brief von Hesperia, der ganz sicher ein Brief ist. Es gibt also einen Aisakos.«
Kjell schwieg. Es verwunderte ihn, wie wenig sie wussten. Es gab keine Fingerabdrücke auf den beiden Zetteln. Per konnte nur vermuten, dass das Papier angefasst worden war. Das bedeutete aber noch nicht, dass jemand vermieden hatte, Abdrücke zu hinterlassen. Auf Papier mit dieser Struktur bildeten sich eben nur schwer brauchbare Abdrücke.
»Was ihr über Artemis gesagt habt, lässt mich an das Plakat in Josefins Zimmer denken«, wendete Barbro ein. »Vielleicht meint der Name hier keine Göttin.«
»Eine Organisation?«, begriff Sofi.
»Vielleicht, ja.«
»Wäre kein schlechter Name für eine militante Frauengruppe, wenn ihr mich fragt.«
Barbro gab Henning zu verstehen, dass ihn keiner fragte.
»Und Aisakos?«, wollte Sofi wissen.
»Es sind auf jeden Fall Tarnnamen. Aisakos und Hesperia.«
»Oder ein Spiel.«
Alle sahen Barbro an.
»Mögt ihr keine Spiele? Eine Albernheit unter Verliebten.«
Das Gespräch wurde von jemandem unterbrochen, der nie albern war. Per öffnete ohne Anklopfen die Tür und schritt durchs Zimmer. »Ich habe wenig Zeit. Kann ich einen Stuhl bekommen?«
Sofi sprang auf und holte einen fünften Stuhl aus dem Büro. Per setzte sich und öffnete die graue Mappe.
»Beim Brief sieht es schlecht aus. Die Oberfläche ist noch poröser als die der Zettel. Allerdings gibt das Papier selbst Auskunft. Es ist eigentlich gar kein Papier, sondern Baumwolle, und dieses hier wird handgeschöpft an nur einem einzigen Ort der Welt mit dem Namen Bécherel. Und man kann es nur dort kaufen in nur einem einzigen Geschäft.«
»Das liegt mitten in der Bretagne«, wusste Kjell. »Nicht mal eine halbe Stunde von Saint Malo entfernt. Wie hast du das nur herausgefunden?«
»Es gibt ein Wasserzeichen im Innenfutter.«
Henning stemmte sich auf. »Bin gleich wieder da.«
Per sah Henning skeptisch hinterher. »Die Tinte ist eine spezielle Chinatusche, die es überall in Europa zu kaufen gibt. Die Metallsalze machen sie leicht identifizierbar. Hochgiftig, das Zeug, kann man noch in den Zellen der Kindeskinder nachweisen.«
»Du sagtest, du habest wenig Zeit«, brachte Kjell in Erinnerung.
»Ja richtig. Wir haben Fingerabdrücke auf dem Buch, und zwar viele. Sehen mir männlich aus. Einige sind verwischt. Offenbar hat der Besitzer geschwitzt oder sich vorher eingecremt. Ich habe bald achtzig Minutien gefunden, aber keinen Datenbankeintrag.«
»Kann eine Aushilfe im Buchgeschäft gewesen sein«, überlegte Sofi.
»Unwahrscheinlich«, erwidert Per. »Es gibt sie auch innen.«
Henning kehrte zurück. Er ruckte den Bund seiner Hose zurecht und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Rosenfeldt war letztes Jahr zusammen mit seiner Tochter dort. Damals habe sie kein Papier gekauft, behauptet er. Sie fährt aber in jedem Sommer mindestens einmal hin. Bécherel ist nicht mehr als ein Dorf; das Besondere daran ist, dass es dort fast nichts anderes als Buchgeschäfte gibt.«
Per nickte desinteressiert und erhob sich. »Ich melde mich, wenn Interpol sich meldet. Aber macht euch keine Hoffnungen, es ist ja ein schwedisches Buch.«
»Jetzt wird es interessant«, fand Kjell, als die Tür krachend ins Schloss gefallen war. »Also hat Josefin das Papier gekauft.«
Die Fingerabdrücke der Toten waren in Frankreich nicht bekannt, und auch in keinem anderen Land. Aus der Bretagne gab es auch keine Vermisstenmeldung, die auf die Tote zutreffen könnte. Henning hatte sich am Vormittag die Videos von Josefins Ankunft in Terminal 5 in Arlanda angesehen und ihre Route zum Ausgang über sieben Kameras verfolgt. Sie war
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