Die Falsche Tote
Kontor am Freihafen.
Es war dann jedoch eine andere, die aus der Welt der organisierten Kriminalität erzählte, eine Frau am Beginn der Vierziger. Sie trug ihr langes blondes Haar zu einem Mittelscheitel frisiert. Beim Sprechen vermied sie jeden Blickkontakt. Alle hörten ihr gespannt zu.
»Die Gunnar-Struktur kann seit zwei Jahren als größte Organisation in Nordeuropa gelten, was den Umsatz und die Verteilung von Drogen angeht. Wir haben bisher nie mehr gesehen als die Enden am äußeren Rand des Verteilersystems. Es gab unbedachte Festnahmen durch das Drogendezernat in Umeå. Wir können nur sagen, dass sich innerhalb weniger Stunden die Verteilerwege für Drogen nördlich von Hälsingland und Dalarna geändert haben. Das Zentrum haben wir bisher in Weißrussland lokalisiert. Jetzt gibt es neue Erkenntnisse. Seit zwei Wochen gehen wir von einem Zentrum in Litauen aus, mit einer Niederlassung in Schweden. Die Struktur ist unglaublich flexibel und hat von allen bekannten Strukturen und Hierarchien den geringsten Informationsrückfluss. Bei den Verhören in Umeå ist es nicht mal gelungen, den Weg um eine Station zurückzuverfolgen.«
Sie zuckte mit den Schultern. Anscheinend arbeitete sie sich seit Jahren an dieser Organisation ab, und der hängende Kopf drückte wohl weniger Scheu als vielmehr Resignation aus.
Henning ergriff zum ersten Mal das Wort. »Verzeihung. Bisher war mir bei den Berichten der Bezug zu unserem Fall immer klar. Jetzt wanke ich ein wenig. Was hat die Gunnar-Bande damit zu tun, welche Bereiche deckt sie ab?«
Die Frau sah auf. »Sie ist die Schleuse von Osteuropa nach Schweden. Die Schleuse ist so sicher, dass anscheinend nur sehr riskante Geschäfte oder riskante Mengen abgewickelt werden. Wir schätzen, dass seit Jahresbeginn etwa tausend Frauen ins Land verschleppt wurden, und wir haben nicht die geringste Ahnung, wie sie hierhergekommen sind. Die können nicht mit dem Schlauchboot, der Fähre oder dem Zug gekommen sein. Es muss eine Cargoverbindung geben. Es gibt auch viele Hinweise, dass der Frauenhandel in den letzten zwei Jahren zentralisiert wurde. Davor lag dieses Geschäft dezentral in den Händen kleiner Banden.«
Der Vorredner meldete sich wieder zu Wort. »Auf der anderen Seite sind wir so gut wie sicher, dass es ohne Wissen der Reedereien geschieht.«
»Mit anderen Worten«, erklärte Sten. »Wir sprechen von verplombten Containern.«
»Ja«, sagte die Frau. »Eine legale Infrastruktur.«
Das alles hatte nichts mit dem Justizkanzler zu tun. Henning sah Sten an. »Geht es hier um die Verknüpfung zum Estonia -Artikel?«
Sten zuckte mit den Schultern, als wollte er attackierende Fledermäuse von seinem Nacken abwerfen. »Es geht um den Zeitpunkt.«
»Seit letztem Mittwoch gibt es eine Veränderung«, sagte die Frau. »Für uns könnte es die große Chance sein. Gunnar hat ein Kopfgeld ausgesetzt. Es ist das erste Mal, dass wir etwas aus dem Inneren der Struktur hören. Offenbar ist jemand aus seinem inneren Kreis abgesprungen.«
»Wie weit innen?«, wollte Henning wissen.
»Das Kopfgeld ist sehr hoch. Wir haben eine Information, dass es fünfhundert Millionen Kronen beträgt. Alles spielt sich in Schweden ab, deshalb glauben wir, dass es sich um das Verteilzentrum in Schweden selbst handelt.«
»Ein Mann also, der aus der Spitze des organisierten Verbrechens aussteigt und sich anzeigen will?«
»An wen würdest du dich wenden?«, fragte Sten. »Wem würdest du vertrauen?«
»Ist das eine Karrierefrage?«
»Ich weiß, dass du nicht zu mir kommen würdest.«
»Doch, genau das würde ich tun. Ich würde doch nicht zu Rosenfeldt gehen. Der hat gerade mal eine Panzerglaswand im Foyer.«
»Aber wenn du Informationen abliefern willst an eine vertrauliche Quelle«, raunte die Frau. »An einen, der bewiesen hat, dass er integer ist. Und wenn er dich zudem aufgrund seiner Machtmittel nicht halten kann, weil du weiterziehen willst in ein Versteck, an wen würdest du dich dann wenden?«
»Und die Zeitungsartikel sind lancierte Vorankündigungen, die an den JK gerichtet sind?«
Alle nickten.
»Ich hatte eher an die Tote gedacht«, gestand Henning. »Sie kommt aus dem Nichts, und sie kann durchaus Litauerin oder Weißrussin sein.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Sie ist viel zu jung. Ihr Tod ist nur der Beginn der Botschaft, ein eindringlicher Prolog. Auf sie solltet ihr euch weniger konzentrieren. Wahrscheinlich stammt sie aus dem Osten und wurde nur aufgrund ihrer
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