Die Falsche Tote
sich ins nasse Gras kniete, um auf ihrem Notizblock ihre Gedanken zu kartographieren. Die Familie hatte einen Ehrenmord an der Tochter begangen, und der Justizkanzler war gegen das Urteil am Vater vorgegangen, denn bei den Verhören hatte die Polizei der Wahrheit etwas nachhelfen müssen. Der Justizkanzler hatte sich also gegen ein Unrecht gewandt, zugleich blieb das Unrecht des Vaters an seiner Tochter durch das Wirken des Justizkanzlers ungesühnt. Das hatte viele Schweden in ihrer Meinung geteilt. Nun war die Tochter des Verantwortlichen verschwunden, eine andere, die nicht nur Josefin auf grobe Weise ähnlich sah, sondern vielleicht auch dem türkischen Mädchen, war aus dem Fenster gestürzt. War das nicht eine Spezialität der Erinnyen, Leute dazu zu bringen, sich in den Tod zu stürzen?
An der Wand hatte ein Poster gehangen. Es hatte noch nicht lange dort gehangen. Die Tote konnte es dort aufgehängt haben. War das ein Rachemord? Lag Josefin irgendwo tot? Dann konnte die Tote die Mörderin sein. Gab es doch eine Verbindung zwischen der toten Türkin und der Doppelgängerin? Dann war ihr Sturz vielleicht gar kein Mord. Es konnte doch irgendeine andere Erklärung für das geben, was der Nachbar gehört hatte.
Sofi blätterte in ihrem Notizblock weit nach vorn. Sesselja. Sie hatte die Tote doch als verängstigt beschrieben. Vielleicht war alles andersherum, als wir bisher geglaubt haben, murmelte sie vor sich hin, so herum ergab es auch eine Geschichte.
27
Sofi stand an der Spüle des Besprechungsraums und lud vier Punschrollen aus dem Karton auf einen Teller.
»Und?«, fragte sie. »Hast du etwas gefunden?«
Kjell brummte zur Bestätigung und trug die Kaffeelöffel zum Tisch. Er hatte zwei aufeinanderfolgende Nächte in seinem Arbeitszimmer daheim verbracht, einer kleinen Kammer, die gerade genug Platz für einen Schreibtisch bot und um drei Schritte auf- und abzugehen.
Er rief in den Gang hinaus, dass der Kaffee fertig sei. Henning trug wie immer einen Stapel Unterlagen bei sich, der auch auf den zweiten Blick kein Ordnungsprinzip erkennen ließ. Barbro hatte ein bisschen Farbe bekommen, sie musste den Vormittag im Freien verbracht haben.
»Der zweite Zettel von Aisakos stammt aus einer Tragödie von Sophokles mit dem Titel ›Aleaden‹. Das Stück ist nur als Fragment überliefert, und natürlich steckte es dann in jenem Sonderband, den ich bei der Auswahl zuerst ausgeschlossen hatte. Ihr wisst ja, wie das Leben zu mir ist.«
Sofi steckte sich das eine Ende ihrer grünen Punschrolle in den Mund. Sie steckte sich ständig etwas in den Mund, ob Lebensmittel oder Bleistifte. Im Moment des Abbeißens schielte sie sogar ein wenig nach unten, was eine Gier verriet, die ganz tief in ihr steckte.
»Der erste Zettel nun«, fuhr Kjell fort. »Mit dem hatte ich so einige Schwierigkeiten. Ich bin soweit zu glauben, dass es ihn nicht gibt. Jedenfalls ist es nichts aus dem alten Griechenland.«
»Erster und zweiter Zettel!«, nuschelte Sofi hinter der vorgehaltenen Hand. »Das gibt ja nur unsere Fundreihenfolge wieder.«
»›Dich schützt Artemis‹, das ist also nicht griechisch?«, hakte Barbro nach.
»Er ist dem Charakter nach ähnlich, aber es ist nicht original. Ich habe ähnliche Sätze gefunden in einem Liebesdialog von Theokrit, dort sagt ein Mädchen: ›Er möge es werfen, mich schützt Artemis.‹ Was da geworfen wird, ist das Netz des Eros, also das Verliebtsein. Davor soll Artemis das Mädchen schützen. Begonnen hat alles so: Wir hatten einen Mord und den Zettel. Da lag es nah, dass wir den Inhalt auf das Ereignis bezogen haben. Die Gleichzeitigkeit war aber künstlich. Der Zettel lag dort ja schon länger, und er wäre dort geblieben, wenn das Ereignis ihn nicht zu Tage gefördert hätte.«
»Genau zu diesem Ergebnis bin ich auch gekommen.« Sofi lächelte, um ein wenig bescheidener zu wirken.
»Liebe also«, beendete Henning ein zwölfsekündiges Gruppenschweigen. »Das Netz des Eros soll also die Liebe sein, habe ich das richtig verstanden? Das Netz taucht in unserem Zettel doch gar nicht auf, die Sätze gleichen sich nur im Aufbau und in Artemis. Mir war bisher nicht bekannt, dass Artemis etwas mit Liebe zu tun haben soll.«
»Die hat doch Pfeil und Bogen«, stimmte Sofi zu.
»Sie ist die Göttin der Jagd«, bestätigte Barbro kraft ihres dreijährigen Besuchs des humanistischen Gymnasiums. »Sie ist auch die Beschützerin der Frauen vor der Entjungferung.«
Kjell beglückwünschte
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