Die Familie ohne Namen
einem schönen Bogen bläulichen Papiers, das mit dem meist groben Actenpapier gar keine Aehnlichkeit zeigte. Zuweilen, wenn Lionel die Hand still hielt, um einen unklaren Gedanken erst zu überdenken, blickten seine Augen fast ziellos durch das halboffene Fenster und irrten dann nach dem auf dem Jacques Cartier-Platze zu Ehren des Admiral Nelson errichteten Denkmal. Dann belebte sich sein Auge, die Stirn erheiterte sich und die Feder eilte wieder weiter, während er den Kopf leise hin-und herwiegte, als schlüge er damit den Tact unter dem Einflusse eines regelmäßigen Rhythmus.
Lionel zählte kaum siebzehn Jahre. Sein fast weibliches Gesicht von ganz französischem Typus erschien recht hübsch; die blonden Haare waren vielleicht etwas lang, die blauen Augen erinnerten aber lebhaft an die Farbe der canadischen Seen. Hatte er keinen Vater und keine Mutter mehr, so ersetzte ihm der Notar Nick sozusagen Beide, denn er liebte den jungen Mann, als wäre er sein leiblicher Sohn.
Lionel befand sich allein in der Expedition; zu dieser Stunde kam Niemand, weder einer der Schreiber, welche meist noch einige Geschäftswege zu besorgen hatten, noch auch ein Client, obwohl das Bureau des Herrn Nick eines der besuchtesten der Stadt war. Lionel glaubte sich völlig sicher, jetzt nicht gestört zu werden, und benutzte fleißig diese Muße, bis er endlich seinen Namen mit einem wundervollen Schnörkel unter die letzte Zeile der Seite gesetzt hatte, als er sich plötzlich rufen hörte:
»Ah, was machst Du denn da, mein Junge?«
Es war Herr Nick, dessen Eintritt der junge Schreiber ganz überhört hatte, da ihn seine Contrebande-Arbeit völlig in Anspruch nahm.
Lionels erste Bewegungen gingen dahin, einen Schubkasten zu öffnen, um das fragliche Papier darin verschwinden zu lassen. Der Notar hatte aber mit raschem Griffe das Schriftstück gefaßt, trotz des jungen Mannes, der dasselbe vergeblich wieder zu erlangen suchte.
»Was ist denn das, Lionel? Ein Entwurf… Eine Abschrift… Die Copie einer Urkunde?…
– Herr Nick, Sie dürfen mir glauben…«
Der Notar hatte die Brille aufgesetzt und mit Stirnrunzeln las er höchst erstaunt die beschriebene Seite.
»Was sehe ich denn da? rief er. Verschieden lange Linien!… Weiße Stellen auf der einen, weiße Stellen auf der anderen Seite. Wie viel Tinte ist hier verloren gegangen, wie viel seines Papier durch unnütze Ränder verschwendet worden!
– Herr Nick, antwortete Lionel bis zu den Ohren erröthend, das ist… rein aus Zufall… so gekommen.
– Was ist Dir aus Zufall gekommen?
– Verse…
– Verse!… Du ergehst Dich in Versen?… Alle Wetter, genügt Dir denn die ehrliche Prosa nicht mehr, eine Urkunde aufzusetzen?
– Es handelt sich hier nicht um eine Urkunde, wenn Sie erlauben, Herr Nick.
– Um was handelt es sich denn?
– Um ein Gedicht, welches ich für einen Wettbewerb in der »Freundes-Lyra« gemacht habe.
– Die Freundes-Lyra! rief der Notar. Bildest Du Dir vielleicht ein, ich hätte Dich in meine Expedition aufgenommen, um Dich als Mitbewerber in der Freundes-Lyra oder irgend einer anderen parnassischen Gesellschaft auftreten zu lassen? Hab’ ich Dich deshalb zu meinem zweiten Schreiber erhoben, damit Du Dich Deiner verseschmiedenden Hitze hingeben solltest? Da könntest Du ja Deine Zeit ebenso gut verbringen, auf dem St. Lorenzo herumzugondeln oder als Stutzer in den Alleen von Montreal oder im St. Helenen-Parke einherzustolzieren! Wahrhaftig ein Poet im Notariat!… Der Kopf eines Schreibers in einer Weihrauchwolke!… Damit könnte man seine Kundenschon in die Flucht jagen.
– Zürnen Sie nicht, Herr Notar, antwortete Lionel bittenden Tones. Wenn Sie nur wüßten, wie vortrefflich sich unsere melodiöse französische Sprache zur Poesie eignet! Sie bietet sich fast von allein an für jeden Rhythmus, jede Cadenz und den schönsten Wohlklang!… Unsere Dichter Lemay, Elzéar Labelle, François Mons, Chapemann, Octave Crémazie…
– Herr Crémazie, Chapemann, Mons, Labelle, Lemay versehen auch, so viel ich weiß, nicht die wichtigen Functionen eines zweiten Schreibers. Sie werden nicht, von Tisch und Wohnung ganz zu schweigen, mit sechs Piastern monatlich bezahlt, setzte Herr Nick hinzu. Sie haben keine Kaufcontracte, keine Testamente aufzusetzen und können also leicht nach Belieben pindarisiren.
– Herr Nick… nur ein einziges Mal…
– Schon gut, es mag ja sein… Du hast ein einziges Mal Laureat in der Freundes-Lyra werden
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