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Die Familie ohne Namen

Die Familie ohne Namen

Titel: Die Familie ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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wollen?
    – Ja, Herr Nick, ich hatte diese thörichte Anmaßung.
    – Und könnte ich erfahren, was Dein Gedicht eigentlich behandelt?… Gewiß eine dithyrambische Anrufung der Tabellionoppe, der Muse des vollkommenen Notars?
    – O! stieß Lionel mit einer abwehrenden Handbewegung hervor.
    – Nun also, wie betitelt es sich denn, Dein Reimgeklingel?
    – »Das Irrlicht!«
    – Das Irrlicht, rief Herr Nick; was, Du singst Irrlichter an?«
    Der Notar schwebte schon in Gefahr, sich mit Poltergeistern, Elfen, Dämonen, mit Kobolden, Wassernixen, Asen, Gnomen und allen poetischen Gestalten der skandinavischen Mythologie umherschlagen zu müssen, als der Briefträger an der Thür klopfte und auch schon auf der Schwelle erschien.
    »Ah, Sie sind es, guter Freund, sagte Herr Nick, ich hätte Sie bald für ein Irrlicht gehalten.
     

    Herr Nick las den Brief mit größter Aufmerksamkeit. (S. 48.)
     
    – Für ein Irrlicht, Herr Notar? antwortete der Briefträger. Sehe ich denn etwa aus wie…
    – Nein!… Nein!… Sie sehen ganz aus wie ein Postbote, der mir einen Brief bringt.
    – Hier ist er, Herr Notar.
    – Ich danke, guter Freund.«
    Der Briefträger zog sich in demselben Augenblicke zurück, wo der Notar nach einem Blick auf die Adresse das Schreiben hastig erbrach.
    Lionel konnte jetzt sein Papier zurücknehmen und steckte es in die Tasche.
    Herr Nick las den Brief mit größter Aufmerksamkeit und drehte dann das Couvert noch einmal um, um den Stempel und das Datum nachzusehen. Der Umschlag trug den Stempel des Postamtes von Saint Charles, einem kleinen Flecken in der Grafschaft Verchères, und das Datum des 2. September, also des Vortages. Nachdem er wenige Augenblicke überlegt, kam der Notar auf seine Brandrede gegen die Dichter wieder zurück.
    »Ah, Du huldigst den Musen, Lionel… Nun, zur Strafe wirst Du mich nach Leval begleiten und wirst unterwegs genügende Zeit haben, weitere Verse zu drechseln.
    – Drechseln, Herr Notar…
    – Wir müssen binnen einer Stunde aufgebrochen sein, und wenn wir draußen auf dem Lande etwa Irrlichtern begegnen, so wirst Du denselben Dein Compliment machen.«
    Hiermit begab sich der Notar in sein Cabinet, während Lionel sich zu dem kleinen Ausfluge vorbereitete, der ihm übrigens gar nicht mißfiel.
     

    Einer der unzähligen Vettern des Meister Nick war Chef der Rothhäute. (S. 50.)
     
    Vielleicht gelang es ihm dabei, seinen Herrn Principal auf wohlwollende Gedanken gegen die Poesie im Allgemeinen und auf die Schooßkinder Apollo’s zu bringen, selbst wenn diese Schreiber bei einem Notar waren. Im Grunde war dieser Herr Nick ein vortrefflicher Mann und hochgeschätzt wegen der Sicherheit seines Urtheils und der Verläßlichkeit seiner Rathschläge. Er zählte jetzt fünfzig Jahre. Seine einnehmenden Züge, das breite, meist strahlende Gesicht zwischen dem Wellenrahmen lockigen, früher sehr schwarzen, jetzt etwas mit Grau durchsetzten Haares, seine lebhaften freundlichen Augen, der Mund mit ausgezeichneten Zähnen, die lächelnden Lippen, das liebenswürdige Benehmen, endlich seine gute und als solche ansteckende Laune – alles das zusammen machte ihn zu einer allgemein beliebten Persönlichkeit. Als besondere Kennzeichen erwähnen wir die etwas düstre, ins Röthliche spielende Hautfarbe des Herrn Nick, welche die Vermuthung nahe legte, daß ein Theil Indianerblut in seinen Adern rollen möchte.
    Das war wirklich der Fall und der Notar machte auch gar kein Hehl daraus. Er entstammte den ältesten Völkerschaften des Landes – denen, die hier ansäßig waren, ehe noch Europäer den Ocean überschritten hatten, um das Land einzunehmen. Jener Zeit wurden zwischen Abkömmlingen der französischen und solchen der eingeborenen Race viele Ehen geschlossen. Die St. Eastin, die Enaud, die Népifigny, die Entremont und Andere wurden zu Stammvätern neuer Geschlechter und stiegen sogar zu Häuptlingen wilder Stämme empor.
    Herr Nick war durch seine Vorfahren also Hurone, d.h. er stammte aus einer der vier großen Familien des indianischen Zweiges ab. Obwohl er den Namen Nicolas Sagamore zu führen berechtigt gewesen wäre, nannte man ihn doch nur einfach Herr oder auch Meister Nick – er gab sich damit zufrieden und machte keine höheren Ansprüche.
    Es war übrigens bekannt, daß seine Race keineswegs erloschen war. In der That herrschte einer seiner unzähligen Vettern als Häuptling der Rothhäute über eine der Huronensippen, welche sich meist im Norden der Grafschaft

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