Die Familie ohne Namen
Wellenlinien der Laurentiden am fernen Horizonte abschlossen. Der Gedanke an das geheimnißvolle Wesen, an das sie so lebhaft erinnert worden war, beschäftigte sie ganz ausschließlich. Die Leute behaupteten, daß er sich im Lande befände, ja, man sachte ihn thatsächlich auf der Insel Montreal!… Um auf der Insel Jesus Zuflucht zu finden, brauchte er ja nur über einen Arm des Stromes zu setzen.
Sollte er nicht in der Villa Montcalm Unterkunft suchen? Er konnte darüber nicht unklar sein, daß er dort Freunde besaß, die ihn mit offenen Armen aufnehmen würden. Und doch setzte er sich wohl zu großer Gefahr aus, wenn er sich gerade unter dem Dache des Herrn de Vaudreuil, des Vorsitzenden eines der Reformer-Comités, verbergen wollte, denn die Villa mochte besonders scharf überwacht sein. Trotzdem hatte Clary aber das Vorgefühl, daß Johann ohne Namen hierher kommen müsse, und wärs nur für einen Tag, nur für eine Stunde! Bei der Erregung ihrer Phantasie und mit dem Wunsche allein zu sein, hatte sie den Salon verlassen, ehe die Freunde des Herrn de Vaudreuil in diesen eingeführt wurden.
William Clerc und André Farran – etwa in gleichem Alter wie Herr de Vaudreuil stehend – waren zwei ehemalige Officiere der canadischen Miliz. Nach dem Urtheilsspruche vom 25. September, der ihre Brüder aufs Schaffot gebracht und sie selbst zu lebenslänglichem Gefängniß verdammt hatte, ihrer Grade für verlustig erklärt, hatten sie die Freiheit auch nicht eher wieder erlangt, als mit Erlaß jener Amnestie, welche auch Herrn de Vaudreuil zu Gute gekommen war. Die nationale Partei erblickte in ihnen zwei Männer der That, welche nichts sehnlicher wünschten, als ein zweites Mal ihr Leben durch eine neue Ergreifung der Waffen in die Schanze zu schlagen. Sie waren energisch und an Strapazen gewöhnt durch die großen Jagden in den Wäldern und Ebenen der Grafschaft Trois-Rivières, wo sie ausgedehnte Ländereien besaßen.
Sobald Vincent Hodge Herrn de Vaudreuil die Hand gedrückt hatte, stellte er ihm die Frage:
»Waret Ihr davon unterrichtet, daß Farran, Clerc und Ihr selbst durch speciellen Brief zusammen berufen worden waren?
– Ja, antwortete Herr de Vaudreuil, und gewiß war der Brief, den Du in dieser Angelegenheit erhalten hast, ebenso wie der, welcher mir die erste Meldung brachte, gleichmäßig unterzeichnet: »Ein Sohn der Freiheit.«
– Ganz recht, bestätigte Farran.
– Du fürchtest hierin keine Falle? fragte William Clerc, sich an Herrn de Vaudreuil wendend. Durch Veranlassung dieses Stelldicheins wird man doch nicht die ganze Gesellschaft auf frischer That überraschen wollen?
– Der gesetzgebende Körper, erklärte Herr de Vaudreuil, hat, so viel ich weiß, den Canadiern bisher noch nicht das Recht geraubt, einander bei dem Einen oder dem Andern zu treffen.
– Nein, das nicht, meinte Farran; doch wer ist der Unterzeichner des Briefes, der doch mindestens ebenso verdächtig erscheint, wie ein ganz anonymes Schreiben; wer ist es und warum hat er nicht seinen wahren Namen darunter gesetzt?
– Das ist offenbar auffallend, stimmte Herr de Vaudreuil zu, und zwar desto mehr, weil dieser Mann, sei es wer da wolle, nicht einmal ausspricht, daß er selbst die Absicht habe, sich bei der Zusammenkunft einzustellen. Der mir zugegangene Brief unterrichtet mich nur einfach, daß Ihr alle Drei heute Abend nach der Villa Montcalm kommen würdet…
– Und der unsrige enthält ebenfalls keine weitere Aufklärung, setzte William Clerc hinzu.
– Doch wenn man’s recht überlegt, ließ Vincent Hodge sich vernehmen, weshalb sollte uns der Unbekannte diese Aufforderung haben zugehen lassen, wenn er unserer Verhandlung nicht auch selbst beizuwohnen gedächte? Ich meine, er wird schon kommen.
– Nun gut, er möge kommen, fiel Farran ein. Wir werden ja sehen, was für ein Mann es ist, und hören, welche Mittheilungen er zu machen hat; paßt es uns nicht, mit ihm in Verbindung zu treten, so können wir ihn immer noch abweisen.
– Vaudreuil, fragte William Clerc, Deine Tochter hat ja Kenntniß von diesem Brief genommen? Was denkt sie darüber?
– Sie findet keine Ursache zu einem Verdacht, William.
– Warten wir die Entwickelung ab!« äußerte Vincent Hodge.
Wenn der Unterzeichner des Briefes zu der Zusammenkunft sich einstellte, so hatte er gewiß einige Vorsicht walten lassen wollen, denn es sollte Nacht werden, ehe er in der Villa Montcalm eintraf – unter den obwaltenden Verhältnissen gewiß ganz
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