Die Familie: Roman (German Edition)
Lynn Maxwell, hereingekommen. Es versetzte ihm einen Stich, wenn er daran dachte, wie sie ausgesehen hatte, als sie ins Restaurant geschlendert war. Sie hatte ein ärmelloses weißes Kleid getragen, mit einem Blumenmuster, dessen Blau zu ihrer Augenfarbe passte. Ihre leicht getönte Haut hatte im Kontrast zu dem weißen Stoff goldbraun gewirkt, und das Kleid war beim Gehen um ihren Körper gewallt. Kyle hatte sich vorgestellt, er wäre darunter und könnte sehen, wie der luftige Stoff ihre Haut streichelte.
Seit Montag war Darcy nicht mehr im Restaurant gewesen. Kyle nahm an, dass sie an diesem Abend nur im Restaurant gegessen hatte, weil sie zum ersten Mal in dem Hotel war und ihren Einstand feierte. Er hatte herausgefunden, dass sie mit den anderen Führern in die Stadt ging. So lief das meistens. Die Angestellten bekamen ein Zimmer im Hotel gestellt, aber ihr Essen mussten sie selbst bezahlen, und das Cave Chalet war zu teuer. Ihr gesamtes Gehalt würde für die Mahlzeiten draufgehen, wenn sie nicht in die Stadt gingen und Hamburger oder Pizza oder was auch immer aßen.
Außerdem kamen die Führer gerne raus. Sie gingen nicht nur wegen des billigen Essens in die Stadt, sondern auch, um sich zu amüsieren. Aus ihren Gesprächen, denen er jahrelang gelauscht hatte, wusste Kyle, dass sie ins Kino und in Kneipen gingen. Manche versuchten, jemanden in der Stadt aufzureißen, wenn sie keine Affäre mit einem anderen Führer hatten.
Aber nicht Darcy. Kyle merkte an der Art, wie sie sich gegenüber den männlichen Führern benahm, dass sie keinen von ihnen ranlassen würde. Sie war freundlich zu allen, doch es gab niemanden, zu dem sie eine besondere Beziehung gehabt hätte.
Und sie würde sich auch nicht mit den Männern aus der Stadt einlassen.
Lynn wahrscheinlich schon. Aber Lynn war eine Schlampe.
Kyle bezweifelte, dass Darcy an diesem Abend auftauchen würde. Schon gar nicht am Freitag. Freitagabend gingen die Führer immer in die Stadt. Doch jedes Mal, wenn die Tür aufschwang, schlug sein Herz schneller, bis er sah, wer hereinkam.
Um acht Uhr hatte er jede Hoffnung aufgegeben.
Darcy war in die Stadt gegangen, klar, und würde wahrscheinlich bis Mitternacht oder noch länger ausbleiben.
Wie wär’s mit heute Nacht?, überlegte er. Er begann ein wenig zu zittern. Es war immer aufregend, mit dem Generalschlüssel in ein Gästezimmer zu gehen und sich umzusehen. Er war schon die ganze Woche in Versuchung gewesen, es bei Darcy zu probieren, doch er konnte das Restaurant nicht vor 20:30 Uhr verlassen, und danach hatte er Angst, dass die Führer aus der Stadt zurückkamen und ihn erwischten. Aber nun war Freitag. Er könnte es heute Nacht tun.
Ich mach’s! Ich werd’s tun!
Das Warten bis 20:30 Uhr wurde zur Qual. Sein Herz raste, der Mund war trocken, die feuchten Hände zitterten. Nur zweimal kamen neue Gäste zum Abendessen, und er war dankbar für die kurze Ablenkung von dem, was ihn erwartete.
Darcys Zimmer. Ihre Kleider. Ihre persönlichen Dinge. Das Bett, in dem sie schlief. Das Badezimmer, wo sie nackt in der Wanne gelegen hatte.
Er konnte es kaum noch aushalten.
Um zwanzig nach acht verließ er seinen Posten an der Tür und ging durch das Foyer zur Kassenkabine. »Minnie?«, sagte er mit leidender Stimme. Die dürre kleine Frau, die gerade einen Stapel Rechnungen durchblätterte, sah zu ihm auf. »Ich fühl mich nicht so besonders. Haben Sie was dagegen, wenn ich schon gehe? Es sind nur noch zehn Minuten, bis …«
»Du siehst wirklich ziemlich jämmerlich aus, Schätzchen. Geh ruhig. Von mir erfährt es dein Vater nicht.«
»Danke, Minnie.« Er ging langsam mit hängendem Kopf zur Tür und hielt sich den Bauch, damit es überzeugend wirkte.
Draußen richtete er sich auf. Nach der klimatisierten Luft im Restaurant fühlte sich der Abend warm an. Er atmete tief und bebend ein und ging über den Gehweg auf das Hotel zu. Sein Vater würde an der Rezeption sitzen, deshalb trat Kyle durch die Seitentür am Ende des Westflügels ein und trottete die Treppe zum ersten Stock hinauf. Der Gang war leer; seine Schritte wurden durch den dicken Teppich gedämpft. Als er auf halbem Weg an der Haupttreppe vorbeikam, sah er ein Paar in mittleren Jahren heraufkommen. Kyle ging langsamer. Er blickte zurück und sah sie oben ankommen und in die andere Richtung abbiegen.
An der Tür mit der Nummer 210 blickte er sich erneut um. Die beiden standen am anderen Ende des Korridors, und der Mann schloss eine Tür auf.
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