Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Papier darf niemals das Wesentliche werden. Das Wesentliche sind die Empfindungen; sie sind, davon bin ich überzeugt, auf beiden Seiten stark genug, aber trotzdem gilt es, sie gegen Gewohnheit zu schützen. [ … ] Sag mir ruhig, wie schwer es sein kann, mit mir auszukommen. Ich werde mich schon verteidigen, wenn ich finde, daß Du ungerecht bist.«
Für Rut und Willy Brandt war diese Ehe ein Wagnis, sie mussten sich zu dieser Trauung trauen, denn hinter ihnen lagen gescheiterte Beziehungen, die die Frage aufwarfen, ob man überhaupt zur Ehe taugt, noch dazu in Zeiten, in denen alles ungewiss war, das emotionale Band zueinander, die Entscheidung, wo man lebt, welche Heimat man wählt, die berufliche Zukunft. Die Frage nach Willy Brandts beruflicher Zukunft bedeutete im Jahr 1948 zugleich die Frage, wo die Familie Brandt fortan leben würde, welchem Land und welchem Projekt sie sich verschrieb, mit welcher Sprache sie ihren Alltag bestreiten würde, wohin diese Familie gehörte. Sollte sie in Norwegen leben, in die Schweiz oder nach Paris ziehen oder doch in Deutschland bleiben, ein Land, das 1947 noch gar nicht existierte? War Berlin, diese »Leiche einer Stadt«, ein geeigneter Ort, um Kinder großzuziehen, oder sollte man besser in die Provinz ausweichen, nach Bonn, Hannover oder nach Lübeck? Zu all diesen Orten gab es Kontakte, berufliche Optionen, Türen, die sich einen Spalt weit auftaten und einen Blick auf einen denkbaren Lebensweg werfen ließen, aber Brandt entschied sich schließlich für Berlin.
Am 17. Januar 1947 hatte Willy Brandt in Berlin seine Tätigkeit als norwegischer Presseattaché aufgenommen. Er hatte lange gezögert, für welches seiner Heimatländer er fortan arbeiten und sich einsetzen sollte. Hatte er Norwegen nicht etwas zurückzuzahlen? Das Land hatte den Flüchtling aufgenommen, ihn eingebürgert, ihm eine neue Sprache angeboten, eine Familie geschenkt und schließlich auch eine neue Liebe. Dieses Land hatte ihm vertraut, obwohl er dem Land angehörte, das Norwegen 1940 überfallen, besetzt, der Freiheit beraubt und unterdrückt hatte. Oder sollte er sich für Deutschland entscheiden, sein Mutterland, das ihn ausgebürgert hatte, aus dem er hatte fliehen müssen, das Land, das jetzt am Boden lag, politisch und territorial zerstückelt und mit unvergleichlicher Schuld beladen war? War er nicht ein Teil der deutschen Arbeiterbewegung? Hatte sie ihm nicht geholfen, der zu werden, der er war? Gertrud Meyer jedenfalls war tief enttäuscht, als sich Brandt in alliierte Dienste begab, weil sie von ihm einen unbedingten Einsatz für die deutsche Arbeiterbewegung erwartete, weil sie in ihm eines ihrer größten Talente sah. Am 21. März 1947 schreibt sie daher deprimiert an Jacob Walcher, Brandts politischen Mentor und väterlichen Freund im Exil: »Willy ist ja eine einzige große Enttäuschung, aber das wirst Du am besten an Ort und Stelle feststellen können, darüber brauche ich Dir nicht mehr zu schreiben. Ich bewundere, wie er das Leben in dieser Zwischenstellung aushält. Ich würde daran kaputtgehen.«
Die Arbeit als norwegischer Presseattaché war ein Kompromiss. Zwar vertrat Brandt in Berlin norwegische Interessen, aber noch gab es Bonn als Bundeshauptstadt und Machtzentrum nicht. Der Alliierte Kontrollrat befand sich in der alten Reichshauptstadt, hier hatte die internationale Politik ihre Bühne aufgeschlagen, hier hatten die Norweger ihre Militärmission angesiedelt, und hier befand er sich in Deutschland, wenn auch in einer viergeteilten Stadt. Berlin war für Brandt also eine Schnittstelle eigener Interessen, hier konnte er seine Loyalitäten noch am ehesten synchronisieren, zu Norwegen, zu Deutschland, zur SPD, zur Europa- und Deutschlandpolitik, zum Journalismus und zur Politik, zu seinen Karrierechancen. Alle Türen einstweilen noch offen. Doch die Tätigkeit als norwegischer Presseattaché, die ihn in gewisser Weise gegenüber dem deutschen Alltag wattiert und ihn vom deutschen politischen Leben distanziert, befriedigt Brandt bald nicht mehr. Er will politisch gestalten, mitwirken am Aufbau des zerstörten Landes, er sucht auch das Zentrum der Aufmerksamkeit, wer politisch wirken will, braucht Macht. Brandt besann sich darauf, woher er kam, er schloss sich wieder der SPD an, die fähige Leute wie ihn brauchte, ihm aber doch nicht gleich alle Türen öffnete. Er musste sich in die SPD hineinkämpfen, jedenfalls auf die besseren Plätze. Am 26. Januar 1948 bestimmte der
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