Die Familie Willy Brandt (German Edition)
noch die Oberschenkel da. Ich sah sie mehrmals und wollte ihnen gern etwas geben, Schuhe für den Älteren oder eine warme Jacke für den Jüngeren. Aber ich tat es nicht. Ich hatte Angst davor, dass der Große Nein sagen und vielleicht mich sogar anspucken würde, weil ich Uniform trug.«
Willy Brandt ging das Bild eines anderen Kindes nach. Das Bild dieses Kindes hatte ihn in schweren Zeiten aufgerichtet, Zeiten, in denen er nahe daran war, das Leben loszulassen. Am 9. April 1940, der Tag an dem die deutsche Wehrmacht ihren Überfall auf Norwegen begann, teilt ihm seine Freundin Carlota mit, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Als Brandt im Frühsommer 1940 in deutsche Gefangenschaft gerät – er verbirgt seine Identität in der Uniform eines norwegischen Freundes –, ist es vor allem der Gedanke an die bevorstehende Geburt des Kindes, das ihn aufrichtet. Derart persönlich gefärbte Erinnerungsstellen wie die folgende aus seinem Buch »Links und frei« findet man selten in Willy Brandts späteren Autobiographien, die einen Prozess der Entprivatisierung durchlaufen und den Privatmann Brandt völlig hinter dem Partei- und Staatsmann zum Verschwinden bringen. Hier bekennt er noch: »Die Zukunft erschien nahezu ohne Hoffnung. Ich hoffte, der Mut zu unserem Kind werde sie nicht verlassen, und klammerte mich in nahezu verzweifelten Stunden an den Gedanken, dass in unserem Kind etwas von mir weiterleben würde, sollte ich nicht überleben.«
Die Mutter von Ninja Frahm, Carlota Thorkildssen, ist eine intellektuelle, eigenständige Frau, die unabhängig von Willy Brandts politischem Umfeld einen weitgespannten Freundeskreis besitzt. Als Brandt sie verlässt, kann sie diesem Verlust ein eigenes Leben entgegensetzen, und so richtet sie sich, auch um ihrer Tochter den Aufbau einer stabilen Beziehung zum Vater zu ermöglichen, auf freundschaftlich-pragmatische Weise mit ihm ein.
Als ich Ninja Frahm in Oslo besuche, sie wohnt einige U-Bahnstationen vom Stadtzentrum entfernt, holt sie am zweiten Tag meines Besuches eine Mappe mit alten Briefen und Fotos hervor. Sie will mir die Briefe ihres Vaters zeigen, der immer die Verbindung zu ihr halten wollte und gehalten hat. Sie übersetzt den Brief aus dem Norwegischen. Nur größenwahnsinnige Erzähler werden weismachen wollen, sie könnten mit ihrem forschenden Auge in die intimste Nische eines Lebens eindringen und es der Öffentlichkeit präsentieren. Jeder verantwortliche Biograph wird irgendwann sein Manuskript in die Ecke schleudern wollen, weil er erkennt, dass das Leben ein verteufelt fein gesponnenes Netz ist, das, wenn es einmal gelebt und zerrissen ist, niemals wiederhergestellt oder rekonstruiert werden kann. Diese Textur ist unwiderruflich verloren. Aber manchmal hat man, wenn man versucht, einige Fäden zusammenzulegen, das Gefühl, sie würden sich gleich von selbst zusammenfinden, sich versöhnlich umschlingen und zusammenwachsen, ohne dass die Nadel des Erzählers nachhelfen muss. Das war so ein besonderer Moment für mich, weil sich im Akt des Vorlesens, in Oslo im Haus von Ninja Frahm, die Zeiten und Beziehungen in einem Augenblick vermählten, der Geschichte in sich trug. So waren wir beide, die Übersetzerin und ich, sehr bewegt, weil aus diesen Zeilen ein lebendiges Gefühl sprach, das das längst verflogene Ich des Briefeschreibers zurückholte und das historische Fenster zu einer Vergangenheit aufstieß, die damals noch als ungewisse Zukunft vor dem jungen Mann namens Willy Brandt lag.
Der Vater schreibt am 4. Dezember 1947 aus Berlin an die siebenjährige Ninja: »Liebes Ninjachen, ich bin recht traurig, weil ich so lange nichts von Dir gehört habe. Weder Brief noch Karte ist gekommen, seit ich in Oslo war. Ich weiß auch nicht, ob Du das Päckchen aus Stockholm und die Grüße zum Geburtstag bekommen hast. Also musst Du Dich jetzt bitte bemühen und einen schönen, langen Brief schreiben. Wahrscheinlich werde ich Weihnachten nicht nach Hause kommen. Ich glaube, es wird einige Monate dauern, bis ich wieder nach Oslo komme. Ich denke aber viel an Dich und möchte gern so oft wie möglich von Dir hören.
Vielleicht hat Mama schon erzählt, dass ich in einigen Wochen eine neue Arbeit anfangen werde. Ich bin ja, wie Du weißt, in Deutschland aufgewachsen. Später habe ich in Norwegen gewohnt. Ich musste nach Norwegen fliehen, weil die, die damals in Deutschland regiert haben, dieselben schrecklichen Leute waren, die später auch Soldaten nach Norwegen
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