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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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SPD-Parteivorstand Willy Brandt zu seinem Vertreter in Berlin, der den SPD-Vorsitzenden Kurt Schuhmacher über alle bedeutsamen Entwicklungen in der Vier-Mächte-Stadt zu informieren hatte, eine Aufgabe, der sich Brandt mit ungeheurem Fleiß annahm. Am 1. Juli 1948 wird er wieder deutscher Staatsbürger, und am 14. August 1949 wird er Bundestagsabgeordneter im ersten deutschen Bundestag. Er tritt seinen Machtweg in der Berliner und in der Bundes-SPD an, ein steiniger, abgründiger Weg.
    Politische Macht war für Willy Brandt ein Aphrodisiakum, und Berlin war ein Ort, an dem das Welttheater Funken schlug, ein Ort, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spannungsvoll aufeinanderstießen. Diese Atmosphäre ängstigte Rut, während sie ihren Mann anzog. Sie ist in Hamar, als er am 13. April 1948 schreibt: »Geliebte, [ … ] Es gibt nichts dazu zu sagen, dass Du nervös bist. Aber es besteht kein Grund, sich um mich Sorgen zu machen. Gerade jetzt ist es wichtig, hier weiterzumachen, verstehst Du. Wenn Berlin aufgegeben wird, wird das für das restliche Deutschland und für ganz Westeuropa schicksalsschwere Konsequenzen haben. Deshalb können die westlichen Alliierten auch nicht ihres Weges ziehen, auch wenn sich die anderen alle möglichen Schwierigkeiten einfallen lassen, was Transport und Kommunikation angeht. Ich glaube sogar, dass es nur eine Möglichkeit gibt, die westlichen Alliierten dazu zu bekommen, sich aus Berlin zurückzuziehen und die wäre ein Krieg. Wie Du weißt, halte ich das für wenig wahrscheinlich. Und außerdem ist es fast gleichgültig, wo man ist, wenn es zu dieser Konsequenz kommt. Ansonsten denke ich, dass wir noch ein Jahr oder so hier bleiben sollten. Dann können wir uns vielleicht einen ruhigeren Ort suchen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass das weniger interessant sein wird. Ansonsten besteht auch kein Grund daran zu zweifeln, dass man schon irgendwie herauskommt, falls etwas Unvorhergesehenes passieren sollte.« Schon zwei Monate später ereignet sich etwas Unvorhergesehenes. Als Reaktion auf die Währungsreform in den Westzonen und den Westsektoren Berlins riegelt die Sowjetunion den Zugang nach Berlin am 24. Juni 1948 systematisch ab, die fast einjährige Berlin-Blockade beginnt und die Zeit der heldenhaften Versorgung der Stadt durch die Luftbrücke der Alliierten. Vor diesem Hintergrund schreibt Willy Brandt am 22. August an Carlota Thorkildssen: »Ich habe früher Berlin und die Berliner nicht ausstehen können. Jetzt habe ich die Ruinenstadt gern und bin stolz auf eine Bevölkerung, die durch die Verteidigung ihres Rechtes daran teilnimmt, die Schande wegzuwaschen, die andere über dieses Volk gebracht haben. Entschuldige bitte die grossen Worte, aber entweder geht alles schief, oder es ist ein wesentlicher Beitrag zur politisch-moralischen Regenerierung unseres Kontinents.«
    Während Brandt von Berlin elektrisiert war, weil der Ort seinem Begabungsprofil entgegenkam und hier nicht nur Politik, sondern vor allem Geschichte gemacht wurde, sah Rut Brandt der Stadt weniger vermittelt und abstrakt ins Gesicht. Sie war erschüttert über die Szenen menschlicher Not, und bald überkam sie Scham, weil sie als Angestellte der norwegischen Militärmission privilegiert war, der Besatzungsmacht angehörte und als Uniformträgerin – sie arbeitete im Rang eines Leutnants als Sekretärin für ihren Mann – unübersehbar zu den Siegern gehörte. Als sie einmal in der Schlange vor einem Blumengeschäft hasserfüllte Blicke und Bemerkungen auf sich zieht, flüchtet sie weinend nach Hause. Schon bevor sie das erste Mal nach Berlin gekommen war, hatte sie Willy Brandt gewarnt, man werde Zeuge »entsetzlicher Dinge« und man müsse sich »zwangsläufig eine dicke Haut« zulegen, wenn man bestehen wolle. Tatsächlich war Rut Brandt weitaus weniger robust, und die Bilder vor allem von hungernden und kriegsversehrten Kindern ließen sie nicht los. In ihren Erinnerungen hat sie dem kriegszerstörten Berlin eindrucksvolle Passagen gewidmet, am bedrückendsten steht ihr das folgende Bild vor Augen. Während sie den kurz zuvor geborenen Peter im Kinderwagen durch die Straßen schiebt, eingehüllt in wärmende Decken und Kissen, begegnet sie zwei weniger umsorgten Kindern: »Die beiden Jungen auf dem Kurfürstendamm werde ich nicht vergessen. Der Größere, mit erwachsenen Augen, zog den Kleineren hinter sich auf einem ›Volkswagen‹, einem Brett mit vier Rädern. Von seinen Beinen waren nur

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