Die Familie Willy Brandt (German Edition)
geschickt haben. Jetzt aber gibt es andere Menschen, die Deutschland wieder aufbauen wollen und dafür sorgen werden, dass das Land nie wieder etwas Falsches gegen andere Länder unternimmt. Und ich finde, dass ich dabei helfen muss, auch wenn ich Norwegen sehr, sehr lieb habe. Es ist aber so, wie mir neulich einer meiner Freunde aus der Schweiz geschrieben hat: Ich muss jetzt für dasjenige von meinen beiden Vaterländern arbeiten, das es schwer hat und meine Hilfe braucht. Zum Schluss möchte ich gern wissen, was dieses Jahr ganz oben auf Deinem Wunschzettel steht. Erzähl es Mama! Sie kann es mir gleich schreiben, und wir werden sehen, was wir damit machen können. Eine grosse Umarmung von Deinem Papa.«
Einige Monate nach meinem Besuch schickt mir Ninja eine ganze Reihe von Briefen ihres Vaters, die sie übersetzt hat. An die Übersetzung hat sie jeweils verblüffend echt aussehende Kopien der Originalbriefe geheftet, sie möchte, wie sie schreibt, dass ich einen möglichst zeitgetreuen Eindruck ihres Briefwechsels bekommen solle. Vater und Tochter haben ihr ganzes Leben auch brieflich Kontakt gehalten. Für diese Biographie haben wir uns auf die frühen Briefe konzentriert, weil in ihnen Geschichte, Alltag und Gefühl zusammenfinden, während viele spätere Briefe ganz und gar privat-alltäglichen Charakter haben, zumal das Telefon den Fluss der Briefe ausdünnt. Am 21. März 1948 schreibt Willy Brandt, der mittlerweile als Verbindungsmann des SPD-Parteivorstandes in Berlin Kontakt zu den Alliierten pflegt, an Ninja: »Liebes Ninjachen, [ … ] In meinem letzten Brief habe ich erwähnt, dass ich vielleicht eine Reise nach Amerika machen würde. Es stellt sich heraus, dass aus dieser Reise nichts wird. Gleichzeitig ist mir klar geworden, dass eine geplante Sitzung in Oslo ausgesetzt worden ist. Deshalb komme ich wahrscheinlich erst im Sommer wieder nach Norwegen. Du kannst Dir bestimmt schwer vorstellen, was ich alles zu erledigen habe. Vieles muss geschrieben werden, und deshalb muss ich noch eine Angestellte engagieren. Und dann gibt es viele Menschen, mit denen ich mich besprechen muss, die meisten Engländer, Amerikaner und Franzosen. Ab und zu muss ich auch Vorträge halten. Leider ist es so, dass ich mich nicht sehr viel bewege, oder genauer gesagt, das Auto wird benutzt statt der Beine. Bis jetzt habe ich einen Mietwagen gehabt, nächste Woche bekomme ich aber ein neues, kleines Auto, einen sogenannten Volkswagen. Er ist fast zu klein, aber man kann ja damit fahren. [ … ] Ich wünsche Dir alles Gute, mein Ninjachen. Ich denke viel an Dich und sende viele liebe Grüße und eine große Umarmung. Dein Papa.«
Willy Brandt und seine Tochter Ninja Frahm, im Sommer 1944 in Schweden
[Ninja Frahm/privat]
Alle paar Wochen gehen Briefe zwischen Berlin und Oslo hin und her, der Vater versucht seiner Tochter, seinen Alltag zu vermitteln, und deutlich erkennbar ist auch, wie sich der Erwachsene um den Verständnishorizont des Kindes bemüht, weil er sich um eine verständliche Sprache bemüht und komplizierte Sachverhalte entwirrt, so gut es geht. Am 18. Mai 1948, einen Tag nach dem norwegischen Nationalfeiertag, erkundigt sich Brandt, wie sein »Ninjachen« den großen Tag verbracht hat: »Ich habe ein sehr schlechtes Gewissen, weil ich so lange gewartet habe, bevor ich Deinen letzten Brief beantwortete. [ … ] Gestern war der 17. Mai und da hast Du bestimmt in der Kinderparade mitgemacht. Hier gibt es so was nicht. Ich habe aber dann doch den 17. Mai gefeiert. Am frühen Nachmittag war ich mit einigen Freunden zusammen in der Militärmission – da wo ich früher gearbeitet habe – und da hat es geschlagene Eier mit Zucker gegeben. So etwas bekommt man nicht jeden Tag, besonders nicht hier, und wenn Du Deinen Papa gut kennst, kannst Du Dir wohl vorstellen, dass er etwas Kognak in die süße Suppe getan hat. Später habe ich den norwegischen Minister besucht, wo etwa 200 Leute zu einer »cocktail party« im Garten versammelt waren. Mama kann Dir erklären, was das ist. Üblicherweise ist es ganz langweilig, mit vielen Menschen, die herumwandern und so tun, als ob sie sich über wichtige Sachen unterhalten. [ … ] Es ist die Rede davon gewesen, dass ich bald nach Oslo kommen würde, leider lässt es sich aber nicht machen. Ich hoffe aber sehr, dass ich Dich im Laufe des Sommers treffen werde. Sonst wirst Du wohl so groß sein, dass ich Dich fast nicht wiedererkenne. Schreib mir bitte, wenn Du Lust hast.
Weitere Kostenlose Bücher