Die Familie Willy Brandt (German Edition)
den sie unter schweren Gewissensbissen verlassen hatte, als er todkrank in Falun im Krankenhaus lag. Sie und Willy Brandt hatten sich flüchtig auf ihrer Hochzeit mit Ole kennengelernt, ein wohlgefälliges gegenseitiges Wahrnehmen, mehr nicht. Doch als Ole an Tuberkulose erkrankt und in einem Sanatorium liegt, knüpfen Rut und Willy engere Bande. Ole, der etwas ahnt, beschwört sie in seinen Briefen, zu ihm zu kommen, nach Falun zu ziehen. »Das war nicht möglich, und ich wollte es auch nicht. Willy war auch nicht imstande, sich zu entscheiden.« Es ist ein quälerisches, fiebrig-leidenschaftliches und Leid verursachendes Hin und Her zwischen zwei Paaren. Willy zieht bei Carlota aus, kehrt zurück, gibt Rut auf und wieder nicht, Rut besucht ihren Mann, lässt Willy innerlich los, kehrt zurück nach Stockholm, und da steht er auf dem Bahnhof, wartet, und nun ist es beschlossene Sache. Sie gehören zusammen.
Rut nimmt sich das Bündel vor, schnürt es auf und liest ihrer Vertrauten alle Briefe vor, die ihr der kranke Ole damals schrieb. Es sind eine Menge Briefe, es sind lange und es sind kurze Briefe, es sind zärtliche und vorwurfsvolle, wehmütige und bittere Briefe. Rut liest jeden Brief auf Norwegisch und sie übersetzt getreulich Satz für Satz ins Deutsche. Es muss ihr sehr am Herzen gelegen haben, sich diesen Lebensabschnitt noch einmal zu vergegenwärtigen, noch einmal ihren ersten Mann zu treffen. Ole Olstadt Bergaust stirbt Weihnachten 1946 im Mesnalia Sanatorium und wird in Hamar begraben. Er wurde 28 Jahre alt.
In Kopenhagen gilt es, Abschied von Niels zu nehmen. Hier versammelt sich die ganze Familie. Rut ist traurig, auch verwirrt, die Zeitebenen verschwimmen. Wer wird da jetzt zu Grabe getragen? Niels oder Willy? Peter hält eine der Traueransprachen, und sie macht seinen ausgleichenden, nach allen Seiten um Verständnis bemühten Charakter deutlich. Er beginnt seine Ansprache auf Norwegisch und wechselt dann ins Deutsche, um eine möglichst große Zahl an Trauernden zu erreichen, denn die Trauergesellschaft setzt sich aus deutschen, norwegischen und dänischen Gästen zusammen, und die Skandinavier sind noch eher des Deutschen mächtig als umgekehrt. Peter vermeidet Floskeln, bemüht sich um Aufrichtigkeit, auch weil er weiß, dass an Gräbern nur anklingen kann, was das Leben spielt. So erinnert er auf einfühlsame Weise auch daran, wie »atemberaubend stur« dieser Mann sein konnte und wie schwer es ihm fiel, sich anderen emotional zu zeigen. Er vergisst auch nicht den dänischen Teil der Familie, für die Niels’ Entscheidung, mit Rut zu leben, auch einen schmerzlichen Bruch auf dem eigenen Weg bedeutete. Und er erzählt, wie er Niels kennenlernte: »Es war Sympathie, was uns beide vom ersten Moment an verband. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich bekäme mehr davon, als ich verdiente. Aus der Sympathie wurde schnell Freundschaft: von meiner Seite die liebevolle Verbundenheit mit einem väterlichen Freund. Er war ein wirklicher Herr und Kavalier alter Schule, der Rut auf rührende Weise beschützt hat.« Peter schließt mit dem Satz, mit dem Niels seine Geburtstagsansprache für Rut hatte ausklingen lassen: »Die Liebe ist nicht alles, aber ohne Liebe ist alles nichts!«
Das Verhältnis zwischen Rut Brandt und ihrer Krankenschwester Kristiane Arlt hat sich in Norwegen intensiviert, sie mag niemand anderen mehr an sich heranlassen, und so wird ein ganz offizieller Arbeitsvertrag zwischen den beiden geschlossen, der sicherstellt, dass Kristiane Arlt sich fortan ausschließlich um Rut Brandt kümmern kann. Auch rückblickend sprechen die Söhne voller Dankbarkeit über dieses Arrangement, denn Rut Brandt hat Glück mit ihrer Vertrauten, die sich ihrer weit über ein vertragliches Verhältnis hinaus annimmt und ihr eine stabile und verständnisvolle Beziehung garantiert. Das ist gerade für Menschen, die an Altersdemenz leiden, besonders wichtig, denn sie werden von innerer Unruhe erfasst, sie fliehen, wollen ausbrechen, sie suchen Halt, sie brauchen Menschen, bei denen sie sich von Vertrauen ummantelt fühlen, weil sie immer häufiger das Vertrauen in sich selbst verlieren. Wer oder was bin ich noch? Diese fürsorgliche Ummantelung, diesen Halt findet Rut Brandt hier, sie möchte den Familien- und Freundeskreis ihrer Begleiterin kennenlernen, und die reist mit ihrer Klientin durch alle möglichen Vergangenheiten und Gegenwarten der Familie Brandt.
»Wir haben in Berlin«, erinnert sich Kristiane
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