Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Jahr ihres Lebens wird eine zweite Pflegekraft hinzugezogen, auch auf sie lässt Rut sich ein. Sie bewegt sich nun unsicherer in den Koordinaten ihres Lebens, die Zeit strudelt und schleift, verschlingt sich, das Gedächtnis wird ein immer rätselhafteres Netz, das die erstaunlichsten Sachen einfängt, aber die scheinbar nächsten Dinge verliert, die Umrisse der Menschen, die ihr begegnen, werden undeutlicher. Mit der Erinnerung an ihre Lieben erlischt auch ihr Leben. Sie steht Peter gegenüber und sie weiß, dass er ein ihr sehr vertrauter, sehr naher Mensch ist. Nur deshalb fragt sie ihn: »Wie geht es meinen Söhnen?« Sie bricht auf, um jemanden zu suchen, und hat nach dem ersten Schritt vergessen, wen sie suchen und dass sie suchen wollte. Da steht sie im Niemandsland.
Rut Brandt stirbt am 28. Juli 2006.
Ihre letzten Worte?
»Es war gut so!«
Trauer um Rut Brandt: Enkelin Naima, Matthias und Sofia Brandt
[picture alliance/Sascha Radke]
Manchmal, wenn ein ganzes Leben auf der letzten Leinwand rasend entflieht, ist es ein Film.
Die Gedenkfeier für Rut Brandt findet am 11. August 2006 in der Johanneskirche in Schlachtensee statt. Friedrich Schorlemmer, der die Gedenkansprache hält, sagt manches, und er sagt das: »Willys Diktum ›Ich muss mich um die großen Zusammenhänge kümmern; Rut kümmert sich um einzelne Menschen‹ ist doch mehr ein Bonmot, denn die großen Zusammenhänge halfen auch einzelnen Menschen. Und sie half ihm, dies immer im Blick zu halten.«
Die Familie Brandt
Erinnert ihr Euch an Paris, Kinder? Wir hatten in Marokko ein Höchstmaß an familiärer Verdichtung erreicht und konnten uns von nun an nur zerstreuen. Erwachsen werden, aus dem Haus gehen, mit ansehen, wie eure Eltern sich scheiden ließen – alles hat sich in dem Jahrzehnt seither zugetragen. Aber auf einer hellen hohen Plattform des Eiffelturms hatte ich noch das Gefühl, wir seien für alle Zeit untrennbar verbunden.
John Updike: Marokko.
Nahezu 99 Jahre nach der Geburt von Herbert Ernst Karl Frahm in Lübeck wurde seine Urenkelin Johanne Frahm Øie am 4. November 2012 in Oslo geboren. Dass Willy Brandt sich über diesen familiären Jahrhundertfaden gefreut hätte, darf man behaupten, ohne ihn noch fragen zu können. Die Familie Willy Brandt, die immer mehr war als eine Familie im Schatten der Macht, hört nicht auf, seine Familie zu sein, obschon Willy Brandt seit mehr als 20 Jahren tot ist. Doch einer wie er kann allenfalls aufhören zu atmen, aufhören zu leben kann er nicht. Deshalb kommen seine Kinder im Jahr 2013 auch nicht darum herum, mitzuerleben, wie ein ganzes Land ihrem Vater viele neue Leben schenkt und ihm 100 Kerzen anzündet.
Der Titel des Buches lautet »Die Familie Willy Brandt«, spätestens an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass es diese Familie nie gab, weil sie nie nur aus einer Zentral- und Allmachtsgestalt bestand, der sich alle zu beugen hatten.
Dieses letzte Kapitel ist ohnehin eigentlich Unfug, denn eine Familiengeschichte kennt nun einmal keinen Schluss. Es geht immer weiter. Nur ich muss nun langsam anfangen aufzuhören, nur weiß ich nicht recht wie, denn je länger ich über die Brandts nachdenke, desto mehr will mir scheinen, dass man familiäre Einsichten nur als Splitter und Fragmente mitteilen kann. Vielleicht, denke ich nun, passt dieses skrupulöse Tasten und Formulieren ganz gut zu dieser Familie, die kein Lautsprecher-Abo besitzt und eher selten in der Öffentlichkeit anzutreffen ist. An der allgegenwärtigen »Tyrannei der Intimität« beteiligen sie sich nicht. Es wäre undenkbar, dass sie zu zweit, zu dritt oder gar zu viert in einer Talkshow Platz nähmen, wie es jüngst die Söhne von Helmut Kohl taten, um für ihre Mutter Hannelore zu demonstrieren. Öffentlichkeit als therapeutischer Raum? Eine Talkshow als Couch? Nein, sie schreiben, scheint mir, auf ihre eigene Weise Briefe an die abwesenden Eltern. Auch die Idee zu diesem Buch beruht weder auf ihrer Initiative noch ihrem Wunsch, weshalb ich hier umso dankbarer zu sein habe, denn ohne ihre Hilfe hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können.
Drei Generationen: Willy Brandts Enkelin Janina Frahm Kringstad, ihre Tochter Johanne Frahm Øie und die stolze Großmutter Ninja Frahm, Brandts Tochter, Oslo 2013.
[Ninja Frahm/privat]
Heute ist Freitag, am Montag geht dieses Manuskript auf die Reise. Und heute, an diesem Tag, verdichtet sich noch einmal, was diese Familie kennzeichnet, soweit ich sie
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