Die Familie Willy Brandt (German Edition)
»hat meine Mutter noch mal einen Engel gefunden.«
Die Krankenschwester Kristiane Arlt lernt Rut Brandt im Frühjahr 2004 kennen. Kurz zuvor war für Rut Brandt eine Welt, ihre Welt von einem Tag auf den anderen zusammengebrochen. Bis dahin lebte sie mit ihrem Lebensgefährten, dem dänischen Journalisten Niels Nørlund, in Bornheim bei Bonn. Das Paar, das sich wirklich innig zugetan ist und aneinander Halt findet, versteht sich auf die Inszenierung des perfekten Glücks. Alles prima, alles gut! Wenn die Söhne sie besuchen, läuft Rut Brandt, von jeher eine Virtuosin der Repräsentation, zu Hochform auf. Der Tisch ist gedeckt, die Wohnung blitzblank, auch die Gesichter sind aufgeräumt, da trifft man nur Munterkeit und Freude, alle anderen Spuren und Schatten bleiben für die Besuchszeit ausgespart. Dass hinter dieser befestigten Fassade nicht alles zum Besten steht, zeigt sich Ende 2003, als bei Niels Nørlund eine unaufhaltsam rasch fortschreitende Krebserkrankung diagnostiziert wird. Das Konstrukt zerbröselt nicht, es zerbricht, denn jetzt zeigt sich, dass Rut Brandt an einer beginnenden Altersdemenz leidet, die sie bislang durch Disziplin und mit Niels’ Hilfe vor anderen verborgen haben. Nein, sie wollte niemandem zur Last fallen. Jetzt jedoch ist rasches, stützendes Handeln und Helfen vonnöten.
Rut und Niels ziehen nach Berlin, wo Niels vorübergehend ins Krankenhaus eingeliefert wird. Rut zieht zunächst zu Peters erster Frau Gabriele, dann zu Matthias und seiner Frau Sofia. Doch eine dauerhafte Lösung kann das nicht sein, denn Ruts Erkrankung erfordert intensive Pflege und professionelle Begleitung, die die beruflich häufig reisenden und auswärts arbeitenden Söhne nicht leisten können. Der Gedanke, in ein Altersheim zu ziehen, schreckt Rut Brandt ab, nicht aus Dünkel oder Standesbewusstsein, sondern weil sie sich jung genug fühlt, um nicht alt sein zu wollen, weil sie, die ewig agile, heitere und lebendige Frau, für sich keinen Ort, der an die letzte Haltestelle erinnert, akzeptiert. Es wurde gesucht und gesucht, und leicht war die Reise für die Familie durch die Berliner Lebensabendlandschaft nicht. Schließlich fanden Rut und Niels das Tertianum, eine sogenannte Seniorenresidenz, die ihren Bewohnern das Gefühl vermittelt, einen langen Urlaub auf einem gehobenen Kreuzfahrtschiff anzutreten. Sie beziehen zwei nebeneinanderliegende Wohnungen im siebten Stock, von wo aus man den Blick über die Stadt schweifen lassen kann, das Kaufhaus des Westens, stets ein Heimatort für Rut, ist gleich um die Ecke. Es ist lebendige Bewegung in den hellen Räumen des Tertianums, zahlreiche kulturelle Termine und Freizeitaktivitäten werden angeboten, das Haus besitzt einen eigenen Weinkeller und eine Bibliothek. Rut freundet sich mit dem Ort an, deklariert das Tertianum für sich als Hotel und setzt sich innerlich auf rasch gepackte Koffer. Sie würde, so viel steht fest, eines Tages aufbrechen, mal sehen, wohin die Reise führt.
Niels geht zuerst. Als er am 11. August 2004 stirbt, einen Tag vor seinem achtzigsten Geburtstag, haben er und Rut fast 23 Jahre zusammengelebt. Kennengelernt haben sie sich bereits 1947 in Berlin, denn ein Jahr zuvor hatten Niels und Willy Brandt bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen Bekanntschaft geschlossen, wo beide als Berichterstatter vor Ort waren. Im Nachkriegsberlin erlebt Niels Rut als »wunderschönen Mittelpunkt der Berliner Kolonie von skandinavischen Journalisten«. Die Wege trennen sich, doch ganz verliert man sich nicht aus den Augen, zumal Niels als Auslandskorrespondent der traditionsreichen dänischen Zeitung »Berlingske« in den sechziger und siebziger Jahren aus Bonn berichtet. Als Willy Brandt in Warschau auf die Knie fällt, ist er auch als Reporter dabei. In jenen Jahren flammt auch die herzliche Freundschaft zwischen Rut und Niels auf, die schon den Keim der späteren Lebensbeziehung in sich trägt, denn Niels ist ein guter Zuhörer, und Rut sucht 1969 die Nähe und den Zuspruch eines Freundes, weil ihr Mann ganz und gar vom Wahlkampf verschlungen wird. Wieder trennen sich die Lebenswege, doch der Kontakt bleibt bestehen. Als sich Rut 1980 von ihrem Mann scheiden lässt, gehört Niels zu den wenigen Empfängern eines Briefes, in dem sie ihre Trennung anzeigt. Im Jahr darauf, 1981, interviewt Niels ein letztes Mal den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt in Bonn, und da, schreibt Rut in ihrem zweiten Erinnerungsbuch »Wer an wen sein Herz verlor«,
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