Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Arlt, »immer wieder Ausflüge mit dem Auto unternommen an Orte, mit denen sich Rut verbunden fühlte. Das hat sie immer sehr berührt, aber nie mit Wehmut, sondern eher Staunen. Ein ganz besonderer Ort war die Marinesiedlung, dort sind wir oft hingefahren. Sie war so glücklich, wenn sie von ihrer Zeit dort erzählt hat. Mit Freude berichtete sie davon, wie ihre Söhne Matthias, Peter und Lars dort gespielt und im See geschwommen sind. Aber aussteigen, nein, das wollte sie nie mehr.« Nach der erfolgreich bestandenen Reise nach Norwegen will Rut auch unbedingt noch mal nach Bonn fahren, und so wird dieses Abenteuer in Angriff genommen. Die Orte in Bonn sind ihr nicht wichtig, auf den Venusberg will sie nicht. Nein, sie will die Menschen sehen, die sie noch kennt, die ihr wichtig sind. Sie trifft Lars und seine Frau Renate, sie trifft ihre alte Freundin Dorothea Bahr, sie trifft Karin Clement, ihre Kosmetikerin Renate Messler, sie besucht Maria und Horst Ehmke. Bis zu ihrem Tod fährt Rut Brandt noch drei Mal nach Norwegen, immer auf den alten, verwachsenen Pfaden, die ihr so viel Halt gegeben hatten, als sie in Deutschland an der Seite ihres Mannes schwere Zeiten durchmachte. Sie hat ihn, ihren Willy, geliebt, das sagt sie auch in diesen Tagen, sie besucht noch einmal sein Grab auf dem Waldfriedhof und macht sich Gedanken über den eigenen Tod. Darüber, sagt Kristiane Arlt, hätten sie viel gesprochen.
»Wo möchtest du begraben werden?«
»Da, wo meine Kinder sind!«
Ich frage Kristiane Arlt, ob sie mit Rut Brandt in den letzten Monaten und Wochen auch über den Tod und eine mögliche Jenseitshoffnung gesprochen habe: »Rut hat ihr Sterben bewusst angenommen, ohne Sentimentalität oder Wehmut. Wir haben über das Sterben gesprochen, das Sterben als Teil des Lebens, und da war bei ihr auch etwas Neugierde auf das, was wohl kommen würde. Rut spürte selber, wie sie ruhiger wurde, und hat es sogar thematisiert. Sie kam mir vor wie eine flackernde Kerze, die langsam erlischt. Und die in den letzten zwei Wochen noch einmal ganz besonders hell erleuchtet ist. Es war eine so kostbare Zeit! Sie war ganz ruhig und ohne Angst. Und manchmal konnten wir auch noch miteinander herzlich lachen.«
Das Leben ist kein Kinofilm, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Die »atemberaubende Sturheit«, die Niels auszeichnete, konnte sich auch Rut zu eigen machen, und wenn sie etwas nicht wollte, dann wollte sie nicht. Da waren Diplomatie und Fingerspitzengefühl erforderlich, auch wenn es schwerfiel.
»Es ist nicht immer leicht mit mir?«, fragt Rut.
»Ja!«, sagt ihre Begleiterin schon halb versöhnt.
»Na, ja, mit dir habe ich es auch nicht immer leicht!«
Rut musste nicht immer das letzte Wort haben, aber schön war’s, den eigenen Dickschädel behalten zu dürfen.
Rut Brandt ist nie allein. Die Söhne kommen sie oft besuchen, ihre Frauen, Ninja, die sie wie eine eigene Tochter liebt, reist aus Oslo an, einige Freundinnen besuchen sie und vor allem auch Karoline Brandt, ihre Enkelin. Großmutter und Enkeltochter hatten immer eine enge und vertrauensvolle Beziehung, und Karoline lässt sie auch an ihren Gefühlswelten teilhaben. Jetzt bereitet sie Rut Brandt eine große Freude, als sie ihr erzählt, dass sie begonnen habe, Norwegisch zu lernen. Rut strahlt. Da wird etwas weitergesponnen, Heimatfaden.
»Deutschland ist das Land meiner Söhne und meiner Freunde. Norwegen ist das Land meiner Kindheit und meiner Schwestern. Ich kann hier wie dort auf meinen ›verwachsenen Pfaden‹ gehen. Tulla und ich suchten nach der Lichtung im Wald, wo wir als Kinder Erdbeeren pflückten, die wir eine nach der anderen auf Grashalme zogen. Die Lichtung fanden wir schließlich, aber sie war viel kleiner als in unserer Erinnerung. Doch überall wuchsen Erdbeeren, und ich werde einmal mit Karoline dorthin gehen und Beeren auf Grashalme fädeln.«
Im Februar 2006 erscheint das Buch »Andenken« von Lars Brandt. Der Sohn schickt ihr ein Exemplar. Die Mutter freut es. Sie registriert noch, dass das Buch ein Erfolg wird, dass dieser lange Brief an den Vater zustimmend besprochen wird, lesen kann sie es nicht mehr. Aber sie packt es wieder und wieder aus dem Papier, so als ob es das erste Mal wäre, und freut sich ohne Erinnerung.
Sie freut sich auch, wenn sie Matthias im Fernsehen sieht, nur einmal ist sie entsetzt, als er einen Mörder spielt. Nein, das will sie nicht sehen, das darf nicht sein, das regt sie innerlich auf.
Im letzten halben
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