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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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Als Rut und Niels ins Tertianum zogen, lernten sie bald Kristiane Arlt kennen, die sie als Krankenschwester unterstützte und die Aufgaben der täglichen Pflege, Betreuung und Versorgung übernahm. Anfangs beobachtete Rut die Fremde zurückhaltend, aber als sie sah, wie sie sich um Niels kümmerte, wie sie ihm durch die schweren Tage half, fasste sie Zutrauen. Im Tertianum hatte sie es vermieden, am geselligen Leben der Seniorenresidenz teilzunehmen, jemanden näher kennenzulernen. Weil es ihr immer schwerer fiel, die Rut Brandt zu bleiben, die sie selbst kannte und mochte, die sie immer verteidigt hatte, die makellose, fröhlich-patente Frau, die an allem Anteil nahm, die alle mit ihrer natürlichen Kontaktfreude begeisterte, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück. Für Augenblicke konnte sie sich immer noch in jene Frau verwandeln, die andere bezauberte. Doch Kristiane Arlt registrierte, wie rasch dieses Bild erlosch: »Egal, was sie trug, egal, wie es ihr ging, dennoch bewahrte Rut Brandt immer ihre Haltung. Wenn sie von Menschen angesprochen wurde, gab sie ihnen bis zum Schluss das Gefühl, ganz bei ihnen zu sein. Mit ihrem Charme verzauberte sie immer noch die Menschen, doch diese Begegnungen kosteten sie immer mehr Kraft.«
    Rut Brandt bittet Kristiane Arlt, mit ihr nach Norwegen zu reisen und zusammen die Beerdigung von Niels in Kopenhagen zu besuchen. Die Direktion des Hauses geht auf die ungewöhnliche Bitte ein. Eine Woche wird für die Reise veranschlagt, doch aus einer Woche werden rasch drei, nicht nur, weil der Beerdigungstermin sich verzögert, sondern auch, weil Rut jeden Stein der Erinnerung in Norwegen umdreht. Es ist eine Reise an den Anfang des Lebens und ein Versuch, die immer poröser werdende Erinnerung zu befestigten und ein paar Bilder und Orte zu bewahren.
    In Hamar, dem Ort ihrer Kindheit und Jugend, sucht sie alle Orte auf, mit denen sie noch lebendige Erinnerungen verbindet. Sie will alles noch einmal in Augenschein nehmen, das Gut in Stange, wo ihr Vater Andreas als Chauffeur und Kutscher angestellt war, das kleine rote Haus an der Straße in Kapp, wo ihre Mutter nach dem frühen Tod des Vaters Arbeit in einer Milchfabrik fand, um die vier Töchter durchzubringen, den kleinen Fischladen, wo sie als junges Mädchen immer eingekauft hatte, das Tanzlokal, wo sie erste Jugendliebe erlebte, das Gefängnis, wo man sie und ihre Schwester Tulla einsperrte, und das Grab ihrer Mutter. Sie trifft noch einmal ihre Schwestern, die liebenswürdige, warmherzige Tulla, mit der sie einst als junges Mädchen ihre Heimat verlassen hatte und ins Exil gegangen war, und die energische, kraftvolle Hjørdis, die sie immer als Respektsperson betrachtet hatte, und Olaug, die Jüngste der vier Schwestern, die schwerkrank in einem Altersheim lebt und kurz nach diesem Besuch stirbt. Aufgedreht wie junge Mädchen sitzen die drei Schwestern beisammen, fischen in den Seen ihres Lebens und plaudern ohne Unterlass. Und Rut springt zwischen den Sprachen hin und her, um ihre Begleiterin an all den Abenteuern teilnehmen zu lassen. Ja, Rut fasst sogar den Plan ins Auge, die Fluchtroute der Schwestern von Norwegen nach Schweden mit dem Auto abzufahren, doch daraus wird nichts mehr, die Zeit verrinnt wie im Fluge, und so vieles muss noch ausgegraben werden. Der wichtigste Ort auf ihrer Erinnerungsroute, ihrer Tour wider das Vergessen, ihrer Selbstbehauptungstournee ist ihre Hütte in Hamar, jenes geräumige Holzhaus, das Rut 1964 erworben hatte und das ein Knotenpunkt des familiären Lebens geworden war. Hier hatten die Brandts so oft Urlaub gemacht, hierher hatten die Söhne ihre Freundinnen und Frauen entführt, hier gingen Willy Brandts Freunde ein und aus, hier hatten sich die Journalisten und die Leibwächter getummelt, hier war Zeitgeschichte geschrieben worden, als der Spion, über den Brandt stürzte, 1973 den Sommerurlaub an der Seite seines Herrn verbrachte, hierher war der Kanzler nach seinem Rücktritt geflohen und hatte sich in Schmerz gehüllt. Jetzt war es Rut, die tief in ihre Erinnerungen hinabstieg.
    Sie holte ein altes Grammophon hervor, legte die schweren, schwarz glänzenden Schellackplatten auf und tanzte ausgelassen zur Musik ihrer Jugend. In einer anderen Stimmung zog sie ein altes, verwittertes, mit einer roten Schleife verschnürtes Bündel Briefe hervor. Das waren die Briefe ihres ersten Mannes Ole Olstadt Bergaust, den sie 1942 geheiratet hatte, eine in Kriegs- und Krisenstimmung geschlossene Ehe, und

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