Die Farbe Der Leere
hätten?«
»Nein, aber dann könnte ich mir die Haare aus dem Gesicht stecken.«
Diesmal lachte keiner von beiden. Die lahme Witzelei war überstrapaziert.
Sie probierte die Kette zu lockern, die an der Wand befestigt war. Sie zerrte daran, so stark sie konnte. Nichts.
Sie versuchte Joses Hände durch die Handschellen zu zwängen. Es ging nicht, aber die Haut an seinen Handgelenken, schon wund von eigenen Versuchen, riss auf und blutete.
Sie zog noch ein letztes Mal, und als sie losließ, streifte ihre Hand seine Brust. Sie war nass und warm und klebrig.
»Was ist das?«, fragte sie scharf.
Er fing wieder zu weinen an. So sanft es ging tastete sie Joses Brust ab. Es kam ihr vor wie das Intimste, was sie je getan hatte, als wäre sie noch nie einem anderen Menschen so nahe gewesen. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie einen langen, nicht allzu tiefen Schnitt, der sich senkrecht über seine Brust zog. Sie verfolgte ihn sacht mit einem Finger von seinem scharf vorstehenden Schlüsselbein bis zu seinem Bauch.
Für einen Augenblick fürchtete sie, sich erbrechen zu müssen. Sie zwang sich zu schlucken, um den bitteren Geschmack loszuwerden, der an ihrem Gaumen klebte. Jose hatte sie zu schonen versucht, indem er verschwieg, dass er gefoltert worden war.
Sie setzte sich auf den Boden, lehnte sich neben ihn an die Wand.
Sie dachte an ihren Bruder, an Seth, wie er nachts am Fußende ihres Bettes gesessen hatte, wenn ihr Vater die Dachkammertreppe hinuntergestiegen war. Er hatte gar nicht ermessen können, was für einen unschätzbaren Dienst er ihr damit erwies. Sie selbst hatte in ihrem ganzen Leben nichts so Großzügiges für jemand anderen getan.
»Also, was machen wir jetzt?«, fragte Jose, und sie konnte deutlich hören, wie er sich bemühte, tapfer zu sein und gefasst zu klingen, und vernahm auch das mühsame Atmen, das verriet, wie nahe er daran war, wieder in Tränen auszubrechen.
»Ich denk mir gerade was aus«, sagte sie. »Sobald der Plan fertig ist, sag ich dir Bescheid.« Sie hatte nicht die entfernteste Idee.
Ein gedämpftes Klappern ließ sie zusammenfahren. Die Tür wurde aufgeschlossen. Ein Stöhnen der Verzweiflung entfuhr Jose, dann spürte sie, wie er darum kämpfte, still zu bleiben. Sein Körper zitterte neben ihr.
Plötzlich ging das Licht an, und sie machte geblendet die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, schloss Lamar gerade von innen hinter sich ab.
»Noch mal hallo, Ms. McDonald.« Seine Stimme klang vergnügt, als wären sie gute alte Bekannte, die sich zufällig auf der Straße trafen.
Sie konnte ihn jetzt zum ersten Mal genauer in Augenschein nehmen. Ein großer, gutaussehender Mann. Da war etwas leicht Merkwürdiges um seine Augen, aber sie glaubte nicht, dass ihr das überhaupt aufgefallen wäre, hätte sie nicht gewusst, wozu er fähig war. Er war ein Monster in Menschengestalt, und sie war Teil des Systems, das ihn dazu gemacht hatte.
Jetzt, bei Licht, sah sie, dass sie sich in einem langen, schmalen, fensterlosen Raum befanden. Der Fußboden war rohes Fundament, das Licht eine nackte Glühbirne an der Decke. Auf der anderen Seite des Raums, bei der Tür, standen ein langer Tisch und ein Stuhl. An der Wand neben dem Tisch hingen ein paar Borde.
Lamar zog sich den Stuhl heran, drehte ihn um, setzte sich und verschränkte die Arme über der Rückenlehne. War er wirklich so unbeteiligt, wie er wirkte? Das war vielleicht der erschreckendste Gedanke unter den vielen beängstigenden Möglichkeiten, gegen deren Vorstellung sie ankämpfte.
Sie bemühte sich, Jose nicht anzusehen. Seine Nacktheit musste ihn beschämen. Sie schaute auf den Boden um sich herum, sah dunkle Flecken auf dem unverputzten Zement und versuchte, nicht an Blut zu denken.
Verzweifelt zerbrach sie sich den Kopf über einen Fluchtplan. Nichts, was ihr in den Sinn kam, schien Aussicht auf Erfolg zu haben. Sie konnte probieren, Lamar zu überzeugen, dass er Jose freilassen musste. Oder sie konnte Lamar ablenken, indem sie ihn angriff oder zu verführen versuchte. Sie durchforschte panisch ihren Verstand nach irgendeiner durchführbaren Idee, die funktionieren könnte, aber ihr fiel absolut nichts ein.
»Erkennen Sie mich jetzt wieder, Ms. McDonald? Sie sehen ganz unverändert aus. Eine knochige alte weiße Frau.« Er lachte leise und fuhr dann in lockerem Konversationston fort. »Sie haben meine Familie zerstört. Wissen Sie das? Welches Recht hatten Sie, an meiner Familie herumzupfuschen?« Plötzlich
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