Die Farbe der Liebe
ausgebildete Muskeln. Zwischen seinen Beinen ragte sein Schwanz auf, stolz gereckt, wie eine nach Norden zeigende Kompassnadel.
Im selben Augenblick erhob sich die Sonne über den Ho rizont. Der Mann fiel vor der Frau auf die Knie, und sie richtete sich auf, warf ihn auf den Rücken und senkte sich auf sein hartes Glied. Als sie mit ihm verschmolzen war, begannen ihre Flügel zu schlagen, und die Menge brach in Jubel aus.
Moana schrie verwundert auf, denn eine Veränderung erfasste den Körper der Frau. Ihre Haut war nicht mehr weiß, sondern plötzlich von Bildern überzogen, die ebenso hell leuchteten wie die Sonnenstrahlen über dem Meer – Spiralen, Hieroglyphen, geflügelte Wesen, Säugetiere, Fische und Reptilien. Und der Bilderreigen wurde durch eine pulsierende Ranke verbunden, die wie ein dünnes Netz über ihren ganzen Körper spross und alles zu einem großen Ganzen zusammenfügte.
»Jetzt ist sie gezeichnet«, sagten Stimmen neben Moana voller Ehrfurcht. »Es ist vollbracht.«
10 DIE ENTSCHEIDUNG
Aurelia öffnete ihren Morgenmantel und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte gerade P. J. weggeschickt, weil sie ungestört sein wollte. »Ich muss mal in Ruhe nachdenken«, so ihre Begründung.
Sie hatte sich sehr verändert. Ihr Körper erschien ihr schlanker, jedoch muskulöser, klarer konturiert, voller Energie, die wie elektrischer Strom unter ihrer Haut pulsierte. Ohne dass ihre Hüften voller oder ihre Taille schmaler geworden wären, hatte ihre Figur an Form gewonnen.
Wenn sie sich nicht irrte, hatte es jeden Tag geregnet, seit sie in Seattle war, auch wenn sie mal, was selten vorkam, einen Ausflug nach Capitol Hill oder ins Univiertel unternahm. Ihr Gesicht hatte inzwischen die Blässe von Schneewittchen. Unwillkürlich wanderten ihre Blicke zu den Körperregionen, an denen unter gewissen Umständen sich die ebenso faszinierenden wie beängstigenden Tattoos zeigten. Sie war noch nicht daran gewöhnt, dass sich die Sprache der Lust – und der Ball – auf ihrem Körper abzeichneten.
Aurelia schloss die Augen und konzentrierte sich, um die Tätowierungen heraufzubeschwören. Mit aller Kraft rief sie sich Erinnerungen an Andrei, an Sex, an die Lust und die Orte und Betten ins Gedächtnis, wo sie sich zügellos geliebt hatten. Sie versuchte, die Welt auszublenden und sich vollkommen auf die unbeschreiblichen Empfindungen zu konzentrieren und auf das Gefühl, wenn ihr Geist sich unweigerlich von ihrem Körper löste und zugleich in ihm gefangen blieb; wenn sie zur Sklavin ihrer Instinkte und animalischen Triebe, der raubtierhaften Lust und des unstillbaren Hungers wurde und nur noch genommen werden oder anderen ihren Willen aufzwingen wollte.
Ihre Umgebung versank, sie war bloß noch eine Antenne, die unzählige Reize empfing, ein leeres Gefäß, das im Raum schwebte und die Flamme herbeirief, in der sie sich verzehren wollte.
Sie fühlte sich schwerelos.
Frei.
Federleicht.
Vollständig.
Sie öffnete die Augen.
Mit schierer Willenskraft hatte sie alle Tattoos wieder herbeigerufen. Hitze stieg in ihr auf.
Aurelia betrachtete all die Bilder, Symbole und Zeichnungen, die sich auf ihrer Haut zeigten.
Die vielen flammenden Herzen, die Hals- und Armbänder, die in ihrer Haut eingegraben waren, die Blätter und die Ranken, die sich wie zum Schutz um ihren Venushügel schlängelten, die Augen, die Hieroglyphen und Siegel, die sich über ihre Rippen zogen, Wörter in ihr unbekannten Sprachen, die unter ihren Brüsten standen, die chinesischen Drachen, die auf ihren Schultern hockten.
Sie drehte sich um und spähte auf ihren straffen Hintern. Anmutige Muster überzogen die Hautfläche, Blätter- und Blütengeflechte tanzten ihre Schenkel hinab. Sie kam sich vor wie ein unsigniertes Meisterwerk.
Tag für Tag, Nacht für Nacht, mit jedem neuen unbekannten Partner, mit dem sie fickte oder von dem sie gefickt wurde, mal in der aktiven, mal in der passiven Rolle, mit jeder Erfahrung von Glückseligkeit und Schmerz, die sie machte oder bei anderen bewirkte, mit jedem neuen Ansturm der Lust war sie gezeichnet worden.
Sie zwinkerte einmal und dann zweimal, und wie auf Kommando verschwand das Bilderwerk, das ihren Körper vom Hals bis zu den Knöcheln überzog. Inzwischen hatte sie gelernt, es willentlich zu steuern. Ein weiterer Schritt auf dem Weg – aber wohin?
Aurelia warf den Morgenmantel ab und trat unter die Dusche. Gleich würde entweder Madame Denoux oder die stets souveräne, namenlose Frau
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