Die Farbe der Liebe
ermutigte Aurelia und half ihr, Ruhe zu bewahren, als sie bei einem letzten Rundgang durchs Haus sicherstellte, dass alles in Ordnung und genau so war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Jeden Augenblick mussten die Gäste eintreffen, die von livrierten Dienern empfangen würden.
Mit Andrei an der Hand trat sie durch die Verandatüren auf den englischen Rasen hinaus, wo ein tropisches Paradies entstanden war. Frangipani-Duft erfüllte die Luft. Hunderte Flämmchen funkelten wie Glühwürmchen in der Dunkelheit, unsichtbar gehalten von raffinierten Mechanismen, auch sie von der Truppe geschickter Ingenieure ausgetüftelt, die für den Ball arbeiteten.
Vier Zelte unterteilten den Garten in vier Rechtecke, und in der Mitte erhob sich ein fünftes. Das erste war eine Hommage an Aurelias erste Schritte auf den Pfaden des Balls. Menschen hingen an Seilen, genau wie bei der Kunstausstellung, die sie zusammen mit Siv besucht hatte. Fast normal große Bäume waren ebenso exakt beschnitten wie das Bonsaibäumchen, das sie gepflegt hatte. Für die technische Umsetzung der nächsten Stufe war Walter engagiert worden, er hatte die Aufgabe mit Bravour gelöst. Als sie mit Andrei das Zelt betrat, lächelte Aurelia. Sie hatte Walter gebeten, das Gefühl des Friedens und der Erdung einzufangen, das sie, wenn sie gefesselt war, immer empfunden hatte. Das war ihm gelungen. In der Mitte der gedrungenen Bäume, von deren knorrigen Ästen nackte Menschen in dicke Hanfseile eingewickelt wie reife Früchte herunterhingen, befand sich ein Baum, der nicht eingepflanzt, sondern raffiniert am Zeltdach aufgehängt war. An sein unteres Ende waren ein Mann und eine Frau gefesselt, die sich umarmten. Von ihnen aus strebten Seile in alle Richtungen und verwoben alle Darsteller und alle Bäume zu einem gigantischen Spinnennetz. Für Aurelia symbolisierte es sowohl das Gehaltenwerden als auch das Loslassen, den Drahtseilakt zwischen Zusammenhalt und Einsamkeit, den schmalen Grat zwischen Einschränkung und Freiheit. An der Decke blinkte in Leuchtbuchstaben: »Erde: Was uns beschränkt, macht uns auch frei.«
»Gleich geht’s los«, sagte Andrei und erinnerte sie damit daran, dass sie alsbald den Abend eröffnen würde. Sie musste aber auch nicht erst in jedem Zelt nachsehen, um sicher zu sein, dass dort alles so war, wie sie es entworfen hatte. Dass zwölf Tänzer in einem künstlichen See unter der Wasseroberfläche auf das Eintreffen von Luba warteten, die sie unter dem Motto »Wasser: Was uns ertränkt, ist uns auch Trank« nach einem Totentanz zurück ins Leben führen würde. Dass fünfzig oder noch mehr nackte Körper scheinbar nur von Engelsflügeln getragen wurden, über denen stand: »Luft: Was uns stürzen lässt, erhebt uns auch«. Und dass in einem stockdunklen Zelt mit dem Schriftzug »Feuer: Was uns verbrennt, schenkt uns auch Licht« bald hell lodernde Flammen über Körper lecken würden. Das mittlere Zelt war dem Feiern vorbehalten. Es würde vorerst leer bleiben, doch wenn die fieberhafte Erregung ihren Höhepunkt erreichte, würden die zahlreichen Gäste sich ihre eigene Magie erschaffen und damit das fünfte Element zum Leben erwecken: den Äther.
Der Ball feierte nicht nur die Sexualität, sondern auch das Menschsein, die ihm innewohnende Dualität und die Unvollkommenheit, die all jenen sowohl Freude als auch Freiheit schenkte, die sich erlaubten, ihren Gefühlen zu folgen und Lust zu erleben.
Unter den Ästen des hängenden Baums verabschiedete sich Aurelia von Andrei. Ungeachtet ihrer Pflichten und des Verlaufs des Balls wünschte sie sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als ewig in seiner Umarmung zu verharren, hier in diesem Wald mit den friedlichen Körpern und sanften Atemgeräuschen, die kaum vom leisen Knarren der Äste zu unterscheiden waren.
Er zog sie fest an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn ich dich das nächste Mal sehe, bist du die Ball-Maîtresse. Aber meine Maîtresse warst du von Anfang an, seit dem ersten Kuss. Nichts wird das je ändern.«
»Nichts und niemand«, stimmte Aurelia zu.
Sie wusste, dass es nun soweit war, küsste ihn noch einmal auf den Mund, drehte sich um und ging – zu Madame Denoux und ihren hilfreichen Geistern, die sie baden, kleiden und für die Zeremonie vorbereiten würden. Inzwischen würde man die Gäste hereinbitten, sie mit Getränken bewirten und auffordern, sich spielerisch zu vergnügen, bis der Moment käme, da sie tatsächlich die Maîtresse würde. Dann
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