Die Farbe der Liebe
einem schweren Holztisch, auf dem sich neben einem beeindruckenden Stempel und einem Stempelkissen Dollarnoten und Mün zen stapelten. Auf einem kleinen Schild aus gefaltetem Kar ton stand in der gleichen kalligrafisch anmutenden Schrift wie auf der Einladungskarte »Lauralynn«. Ihre langen blonden Locken waren zu Schulmädchenzöpfen geflochten und standen ihr links und rechts vom Kopf ab. Die kindliche Frisur bildete einen krassen Gegensatz zu ihrer aufrechten, Respekt einflößenden Haltung und dem sarkastischen Zug um ihren Mund. So groß und kerzengerade, wie sie da an dem niedrigen Tisch saß, wirkte sie wie eine junge Königin, die über ihr begrenztes Reich, das Foyer, herrschte.
Die beiden jungen Frauen näherten sich dem Tisch. Siv ließ es sich nicht nehmen, den Eintrittspreis für sie beide zu bezahlen, der allerdings nicht hoch war.
»Keine Taschen?«, wurden sie streng gefragt, und eine perfekt gezupfte Augenbraue schoss in die Höhe. Aurelia zeigte ihre kleine Handtasche und Siv die leeren Hände vor. Nun wurden sie von oben bis unten gemustert. »Ihr habt nichts zum Umziehen dabei?«
»Ich habe dir noch gesagt, du sollst nach dem Dresscode fragen«, flüsterte Aurelia Siv zu.
»Er ist blind. Wie soll er da wissen, was wir anhaben?«, zischte Siv zurück.
»Ah, ihr seid Gäste von Walter«, sagte Lauralynn. »Hat er euch erzählt, um was für eine Art von Ausstellung es sich handelt?«
»Eine Kunstausstellung, oder?«, antwortete Siv. »Er hat mir nur das hier gegeben.« Sie angelte die Einladung aus der Hosentasche und schob sie über den Tisch.
»Ach, ich hab ihm doch gleich gesagt, das reicht nicht …«, seufzte sie. »Na, dann kommt mal mit. Es ist eine erotische Kunstausstellung. Hauptsächlich Performances. Und wir bitten alle Teilnehmer, sich der Atmosphäre zuliebe entsprechend zu kleiden. Normalerweise würde ich euch ja einfach wegschicken, aber da Walter euch eingeladen hat … Schauen wir mal hinten, ob wir was Passendes finden.«
Als sie vom Tisch aufstand, konnten die beiden sie von Kopf bis Fuß bewundern. Die Absätze ihrer eng geschnürten Stiefeletten waren bestimmt zwanzig Zentimeter hoch, was ihre ohnehin schon langen Beine ins Unendliche zu verlängern schien. Selbst in ganz normaler Kleidung wäre Lauralynn eine auffallende Erscheinung gewesen. Obwohl ihre Aufmachung zu ihrer kindlichen Frisur passte, machte sie in der weißen Bluse und dem kurzen Faltenrock keineswegs einen unschuldigen Eindruck. Sie brodelte so vor Energie, dass ihr das Schulmädchenkostüm eher das Aussehen einer Superheldin verlieh, die an ihrem freien Tag erfolglos versucht, einmal harmlos zu wirken.
Fasziniert betrachtete Aurelia den merkwürdigen gummiartigen Stoff, der Lauralynn auf der Haut klebte und im Licht glänzte. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
»Latex«, flüsterte Siv. Vor einem Lagerraum angelte Lauralynn nun einen Messingschlüssel an einer langen Kette zwischen ihren Brüsten hervor und wirkte dabei wie ein hochrangiger Banker, der einen wichtigen Safe öffnet.
Die Kleiderkammer war gerammelt voll mit allen möglichen Kostümen, die meisten davon rot, violett oder schwarz. Viele wirkten auf Aurelia geschmacklos, unheimlich oder beides.
»Rechnen die hier mit einem Atomkrieg oder was?«, sagte sie zu Siv vor einem Gestell voller Gasmasken.
Lauralynn schaute kopfschüttelnd auf sie herab. »Wo hat er euch zwei bloß aufgegabelt?«, brummelte sie in sich hinein, als sie hinter Schachteln, aus denen knappe BH s und Rüschenunterhöschen quollen, ein paar Kleider hervorzog.
»Darin bist du richtig«, sagte sie zu Siv und reichte ihr ein zusammengeschnürtes Päckchen. »Und das passt zu dir, mein Fräulein«, fuhr sie fort und wollte gerade Aurelia ein schwarzes Stoffbündel zuwerfen; da ihr aber einfiel, dass ein solches Nichts an Stoff keinen Meter durch die Luft fliegen würde, reichte sie es ihr lieber.
Aurelia nahm das schlüpfrige Bündel entgegen und hielt es wie eine heiße Kartoffel in den Händen. Was stimmte denn nicht mit dem, was sie anhatte? Sie wollten sich doch nur ein paar Dinge ansehen, außerdem war es noch nicht einmal dunkel. Nur schnieke Restaurants und Nachtklubs hatten Dresscodes, oder nicht? Sie hatte keine Lust, sich umzuziehen, und hoffte, dass Siv genauso drauf war; entweder könnten sie Lauralynn überzeugen, sie so reinzulassen, wie sie waren, oder sie würden gehen. Aber Siv war bereits dabei, sich auszuziehen und die Sachen überzustreifen, die
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