Die Farbe der Liebe
strich mit den Fingerspitzen geistesabwesend über den Knick der weißen Karte in ihrer Hosentasche, die ihr Walter, der blinde Bildhauer, gegeben hatte. Es war die Einladung zu einer Ausstellung in diesem düsteren Gemäuer. Als Aurelia sah, dass Siv sich über die Hüfte strich, runzelte sie die Stirn.
Es war ein später Samstagnachmittag, und erst wenige Tage waren vergangen, seit Siv sich zum ersten Mal als Aktmodell versucht und Aurelia ihr Tattoo entdeckt hatte.
Aurelia schwirrte viel im Kopf herum. Sie dachte oft an den Fremden und das Rätsel des verschwindenden und wieder auftauchenden Herzens. Da sie ihre wöchentlichen Büropflichten für Edyta bereits erledigt hatte und ansonsten reichlich faul gewesen war, hatte sie ausgiebig Zeit gehabt, die kleinen Veränderungen im Verhalten ihrer Freundin zu beobachten, die sie seit der Begegnung mit dem blinden Bildhauer an den Tag legte.
So hatte sie etwa Aurelia gebeten, nachmittags, wenn sie Unterricht gab, auf das Telefon zu achten, falls Walter anrief, um eine weitere Sitzung zu vereinbaren. Aurelia hatte zwar eingewilligt, hielt es aber für übertrieben und war ein bisschen genervt. Konnte er nicht einfach eine Nachricht hinterlassen und Siv ihn dann zurückrufen?
Zudem war Aurelia aufgefallen, dass Siv regelrecht besessen von dieser mysteriösen Ausstellung war, zu der er sie eingeladen hatte. Die weiße Karte, auf der weder Datum noch Zeit, noch Ort oder sonst eine Information standen, hatte Siv so oft aus der Tasche gezogen, aufgeklappt und wieder zurückgeschoben, dass die Schrift mittlerweile kaum noch zu lesen war.
Siv hatte sich allerhand Verrücktes einfallen lassen, um dem Stückchen Karton mehr Informationen zu entlocken. Widerwillig hatte Aurelia sich schließlich darauf eingelassen, denn ihr eigenes Verhalten und ihre Gedanken waren zurzeit auch nicht gerade vernunftgesteuert. Und so hielten sie die Karte direkt vor eine Lampe, dann über eine Kerzenflamme und stellten sich damit sogar auf die Veranda in einen Mondstrahl – eine Idee, auf die Siv verfallen war, nachdem sie den neuesten Fantasyfilm von Peter Jackson gesehen hatte.
»Na ja, Elfen-Geheimtinte ist es jedenfalls nicht«, brummte sie missmutig, als da weiterhin schlicht in verblasster Schrift »Ausstellung: nur mit Einladung« stand und sich auch auf dem Weiß ringsum weder Hieroglyphen noch sonstige Botschaften zeigten.
Irgendwann hatte Siv endlich Aurelias wiederholtem Drängen nachgegeben und den ursprünglichen Zettel herausgekramt, auf den hin sie sich beworben hatte, und angerufen.
»Oh, Entschuldigung«, sagte Walter am anderen Ende der Leitung. »Ich hab vergessen, dir zu sagen, wie man hinkommt.« Hektisch machte Siv Zeichen, dass sie Papier und Stift brauchte. Aurelia stöhnte und verdrehte die Augen, als sie Datum, Uhrzeit und eine ganz normal klingende Adresse aufschrieb.
»Wir müssen aufhören, an diesen ganzen Wunder-Unsinn zu glauben«, sagte Aurelia, als Siv aufgelegt hatte. »Das tut uns beiden nicht gut.« Dabei sah sie eindringlich auf Sivs Irokesenfrisur, die ihre Freundin sich während des Telefonats mit fahrigen Fingern total zerzaust hatte. So wie sie es immer tat, wenn sie in Stress geriet oder flirtete. Da Siv nun meistens die Sachen trug, in denen sie unterrichtete, also Ballettstrumpfhosen und ein buntes Leibchen, sah sie mit ihrer Punkfrisur mehr denn je wie ein Kobold aus. Siv nickte energisch.
Doch obwohl sie sich geschworen hatten, die ungewöhnlichen Dinge, die ihnen widerfahren waren, nüchterner zu sehen, zögerten sie beide, als sie vor dem Eingang zu der Ausstellung standen. Allerdings wollte Aurelia partout nicht zugeben, dass sie ein merkwürdiges Gefühl beschlich. Sie fürchtete, sobald sie diese Eingangstür durchschritt, in eine weitere fremde Welt zu geraten, in der dann noch mehr Bizarres und Unerklärliches geschehen könnte.
»Als würde irgendwo da drin eine Hexe darauf warten, Rapunzel einzusperren«, sagte Aurelia schließlich, als sie an einem der vier Türme hinaufsah, die schwindelerregend in den Himmel zu ragen schienen – vier Finger einer Riesenhand, die sie jederzeit packen könnten.
»Komm, ich rette dich, wenn es schiefgeht«, erwiderte Siv. Sie nahm Aurelias Hand, und gemeinsam gingen sie auf die schwere Tür zu.
Kaum standen sie davor, schwang sie geräuschlos auf.
»Tretet ein«, sagte eine Frau in einem lasziven Tonfall zwischen Schnurren und Knurren.
Sie saß in dem dunklen Flur direkt hinter der Tür an
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