Die Farbe der Liebe
nicht da sein durfte, desto deutlicher stellte sie sich vor, in einem Gemäuer zu sein, an Händen und Füßen gefesselt und Männern mit Peitschen und Paddles ausgeliefert, oder einem Mann, ihrem Mann. Dem Fremden. Sie hatte den Geschmack von Granatapfel im Mund, süß und bitter zugleich.
»Das bin nicht ich«, dachte sie, von Panik ergriffen. Aber die Bilder ließen sich nicht aus ihrem Kopf verbannen. Ihr Herz schlug wie wahnsinnig. Und plötzlich kam sie. Einfach so, noch während sie vor dem Spiegel stand. Ohne dass sie sich auch nur berührt hatte.
Am nächsten Morgen klopfte Aurelia an Sivs Tür. Sie hoffte, ihre Freundin wieder einmal wie früher in redseliger, fröhlicher Stimmung anzutreffen. Doch es war gar niemand im Zimmer und das Bett unberührt.
Zuerst war Aurelia entrüstet – und dann neidisch. Bis sich die Sorge meldete. Und Traurigkeit.
So weit war es nun mit ihrer Freundschaft gekommen? Siv hatte einen Neuen kennengelernt, mit dem sie die Nacht verbrachte, ohne ihr auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen? Aber war es überhaupt ein Neuer? Aurelia dachte daran, welchen Eindruck Walter auf Siv gemacht hatte. An ihren Gesichtsausdruck, als Walter die Tänzerin in Ton modellierte, und an ihren Wunsch, eine seiner Marionetten zu sein.
Schuldgefühle überkamen sie, als sie sich daran erinnerte, wie ablehnend und misstrauisch sie darauf reagiert hatte, dass ihre Freundin sich so stark von dem Bildhauer angezogen fühlte. Dabei war es bloß der Versuch gewesen, mit ihrer eigenen Verwirrung zurechtzukommen, wie ihr jetzt klar wurde. Aber sie konnte es nicht ungeschehen machen.
Aurelia versuchte, ihre Sorgen und ihren Schmerz zu verdrängen. Schließlich war es Sivs Leben, sagte sie sich, ihre Freundin konnte tun und lassen, was sie wollte, und ihr Leben in vollen Zügen genießen, solange sie Aurelia damit nicht schadete. War es ihnen letztlich nicht um neue Erfahrungen gegangen, als sie beschlossen, in die USA zu gehen und das Leben in den Straßen von San Francisco kennenzulernen?
Ordentlich erledigte sie Sivs Pflichten im Haushalt mit. In regelmäßigen Abständen versuchte sie, ihre Freundin anzurufen, erreichte sie aber nicht. Als sie am nächsten Tag immer noch kein Lebenszeichen von Siv erhalten hatte, schaute sie sich in ihrem Zimmer um. Ihre Kleider waren alle noch da, auch sonst schien nichts zu fehlen. Sogar das Ladegerät von Sivs Handy lag an seinem Platz in der Schublade. Das war vielleicht die Erklärung dafür, dass sie nicht auf ihre Anrufe reagierte.
»Ich würde mir keine Sorgen machen«, meinte die hagere Ballettlehrerin, als Aurelia zu ihr ging, um die Miete für sich und Siv zu zahlen. Es glitzerte in ihren Augen, und ihre schmalen Lippen waren leicht spöttisch verzogen. »Sie wird schon wissen, was sie tut …« Und sie nickte, als würde sie Sivs Verhalten ganz und gar in Ordnung finden.
Aurelia überlegte kurz, ob sie ihr erzählen solle, dass Siv sich wahrscheinlich mit einem blinden älteren Mann eingelassen habe, aber dann hatte sie doch das Gefühl, dass es Verrat wäre, einfach die Geheimnisse ihrer Freundin auszuplaudern. So verging eine Woche.
Als sie danach noch immer kein Lebenszeichen von Siv hatte, wurde Aurelia unruhig. Sie googelte nach Walter, fand aber im ganzen Web nirgends eine Spur von einem berühmten blinden Bildhauer. Sie ging sogar zu dem Gebäude, in dem die Ausstellung stattgefunden hatte, erhielt am Einlass aber nur die höfliche Auskunft, es sei eine geschlossene Veranstaltung gewesen. Nein, man dürfe ihr leider nicht sagen, wer die Räume gemietet habe.
Ja, sagte die Frau dort schmallippig und beäugte sie durch ihre Brille, es sei durchaus möglich, dass es in Zukunft weitere derartige Performances gebe, an denen vielleicht auch einige derselben Gäste oder Mitarbeiter teilnähmen. Aber das könne sie beim besten Willen nicht mit Sicherheit sagen, und Einblick in den Kalender der privaten Veranstaltungen könne sie ihr natürlich auf keinen Fall gewähren.
Aurelia wurde ganz mulmig bei dem Gedanken, dass Sivs Eltern anrufen könnten. Was sollte sie ihnen dann sagen – sie einfach belügen und fröhlich behaupten, Siv gehe es gut? Gerade als sie darüber nachdachte, ob sie nicht doch besser zur Polizei gehen solle, erhielt sie unerwartet eine E-Mail von Siv.
»Alles okay mit mir. mir geht es gut. mach dir keine sorgen. eines tages wirst du verstehen. liebe grüße.«
Von Sivs Familie rief niemand an. Aurelia vermutete, dass Siv sie in
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