Die Farbe der Liebe
wollte lässig wirken, doch die Hand, mit der sie sich hektisch durch die schon strubbeligen Haare fuhr, und ihre fahrigen Bewegungen verrieten sie.
»Ehrlich gesagt, wäre ich gern eine von denen da gewesen«, gab Siv niedergeschlagen zu.
Aurelia verblüffte dieses Geständnis, und sie versuchte sich vorzustellen, in der Haut ihrer Freundin zu stecken. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie dort oben hängen würde, mit dem Fremden auf dem Podest über sich, dem selbst die winzigste Veränderung ihrer Erregung nicht entging? Der jede ihrer Bewegungen dirigierte wie ein Puppenspieler? Aurelia schloss die Augen. Dieser Gedanke goss Öl in die Glut ihrer Erregung, die seit ihrer Ankunft in ihr schwelte. Und sogleich loderte ein hohes Feuer auf, das wie ein Steppenbrand durch ihren Körper raste. Verdammt! Gleich kam sie vor den Augen von Siv, in ihrem durchsichtigen Kleid, vor all diesen Leuten! Sie versuchte, das Gefühl zu ersticken. Nicht hier. Nicht jetzt. Und nicht so.
»Lass uns verschwinden«, flüsterte Aurelia. Ihr war schwindelig, und sie brauchte unbedingt frische Luft, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie wollte nicht mehr wissen, was sich hinter den anderen Türen abspielte oder was dieses seltsame Knallen und dumpfe Dröhnen verursachte, das aus manchen Räumen auf die Gänge drang. Doch lag das daran, dass sie fürchtete, es würde sie anwidern? Oder fürchtete sie vielmehr, dass es sie anmachen könnte?
Die ganze Welt schien aus den Fugen geraten.
Sie nahm Siv an die Hand und zog sie in Richtung Kleiderkammer.
6 HERZKLOPFEN
Aurelia unternahm etliche Versuche, mit Siv über die Ausstellung, Walter und seine seltsamen Marionetten zu sprechen. Und vor allem über die Wirkung der Vorführung auf ihre Freundin. Aber die zuckte nur mit den Schultern und wechselte rasch das Thema oder tat furchtbar beschäftigt.
Aurelia kam es vor, als stünde plötzlich eine Wand zwischen ihnen. Oberflächlich betrachtet, waren sie Freundinnen wie eh und je, aber Sivs Verschlossenheit ließ letztlich doch eine gewisse Kälte zwischen ihnen entstehen.
So ging ein Monat ins Land.
Nach einer Weile fand Aurelia, dass es vielleicht besser für sie gewesen wäre, sich gleich an einem College einzuschreiben, statt sich ein ganzes Jahr Nichtstun zu gönnen. Die vielbeschäftigte Siv war ständig unterwegs, nicht selten erledigte sie geheimnisvolle Botengänge für Edyta, über die sie aber kein Wort verlor. Aurelia hingegen saß tagelang nur in ihrem Zimmer in Oakland herum und hörte aus Edytas Ballettstudio unter ihr Musik, Stimmen, Kommandos und gelegentlich ein Lachen heraufdringen.
Irgendwie steckte sie in einer Sackgasse. Ruhelos kreisten ihre Gedanken immer wieder um dieselben Dinge: den geheimnisvollen Treuhandfonds und ihren Wohltäter; ihre leiblichen Eltern, die sie nur aus ein paar dürftigen Erzählungen und von wenigen verblichenen Fotos her kannte und die für sie völlig fremde Menschen waren; den tiefen Eindruck, den die Ausstellung bei ihr hinterlassen hatte; bittersüße Erinnerungen an den Mann, mit dem sie in der kleinen Kapelle in Bristol geschlafen hatte – den Geschmack seines Kusses, seine weichen Lippen, die wunderbare Härte seines Schwanzes. Und über all dem lag ein seltsames Gefühl von Niedergeschlagenheit und Verwirrung.
Ausflüge hätten eine Abwechslung sein können. Früher hatte sie mit Siv Pläne geschmiedet, ein Auto zu mieten und nach Los Angeles zu fahren, um auch den sonnigeren Süden Kaliforniens kennenzulernen, vielleicht auch mal einen Ausflug in die Wüste zu unternehmen und Las Vegas, den Grand Canyon, den Hoover-Staudamm und all die anderen Orte zu besuchen, von denen sie einst geträumt hatte. Aber nachdem sie herausgefunden hatten, dass ihnen aufgrund ihres Alters in den USA niemand einen Wagen vermietete, obwohl sie beide einen Führerschein hatten, war das Interesse daran erlahmt.
Alternative Reisemöglichkeiten zog Aurelia nicht in Betracht. Irgendwie war sie träge und lustlos geworden. Sie beneidete Siv, die es in kürzester Zeit geschafft hatte, sich in den USA einzuleben und ihre Tage auszufüllen.
Ihr fehlte die entspannte Verbundenheit mit Siv, die vor der Ausstellung stets da gewesen war, ohne dass es dazu großer Worte bedurft hätte.
Die Nächte plagten sie mit Albträumen und wirren Gedanken. Oft wachte sie am Morgen so ermattet auf, dass sie sich die ganze erste Tageshälfte mehr oder weniger nur herumschleppte. Ihr Körper fühlte sich
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