Die Farbe der See (German Edition)
hatte er das Gefühl gehabt, dringend frische Luft zu benötigen, und war hinunter ans Wasser gegangen. Da saß er nun und verglich die Schwärze des Wassers mit der Stimmung seines Herzens.
Ein Weltmeistertitel, völlig unverhofft in greifbare Nähe gerückt und dann doch wieder außerhalb jeder Reichweite. Ein strahlend schönes Mädchen, das mit kaum mehr als einem Lächeln und ein paar Blicken seine Gefühle auf den Kopf gestellt hatte, nur um gleich darauf auf Nimmerwiedersehen aus seinem Leben zu verschwinden. Und dies alles vor dem Hintergrund einer politischen Krise, die die ganze Welt aus der Bahn zu stürzen drohte.
Zwischen diesen drei Dingen sprangen Oles Gedanken vor und zurück. Immer wieder, knirschend wie die Nadel eines Grammophons auf einer zerkratzten Schellackplatte.
Ole schüttelte sich unwillkürlich und stand auf. Wie von selbst gingen seine Schritte hinüber zum Liegeplatz der Lydia. Sie war noch da, wo sie hingehörte. Wenigstens das!
Ohne lange zu überlegen, kletterte er an Bord und setzte sich ins Cockpit an die geschwungene Holzpinne. Die mondlose Dunkelheit, das sachte Wiegen des Bootes und die kühle Nachtluft in seinen Lungen taten ihren Teil und ließen seine Sinne zur Ruhe kommen. Dann merkte Ole auf einmal, wie müde er war. Das frühe Aufstehen und die beiden ebenso aufregenden wie anstrengenden Regattaläufe forderten ihren Tribut, und es dauerte nicht lange, bis er eingenickt war.
Ole Storm schreckte aus dem Schlaf, als er Schritte und leise Stimmen auf den Bohlen des Steges hörte. Es waren zwei Männer. Sie blieben keine zehn Meter von der Lydia entfernt stehen, offensichtlich um auf zwei weitere Personen zu warten, die vom Land aus herüberkamen. Die Silhouette des Kleineren der beiden war trotz der Dunkelheit unverkennbar: von Wellersdorff.
Die Lydia lag mit dem Heck zum Steg. Rasch duckte Ole sich tiefer ins Cockpit, um nicht entdeckt zu werden. Ohne Erlaubnis ein fremdes Schiff zu betreten, so etwas wurde im ungeschriebenen nautischen Knigge des ehrwürdigen Yachtclubs als Delikt knapp unterhalb von Piraterie oder Jungfrauenraub geführt. Und wie der bekanntermaßen strenge von Wellersdorff auf einen solchen Fauxpas reagieren würde, wollte sich Ole lieber erst gar nicht vorstellen. Andererseits war es bereits zu spät, um noch unbemerkt auf den Steg springen zu können. Und wenn die Herren ihren nächtlichen Spaziergang in diese Richtung fortsetzten, würden sie ihn zwangsläufig entdecken.
Da kam es Ole ganz gut zupass, dass der Niedergang der Lydia offen stand. Vermutlich war er zum Lüften aufgelassen worden. Oder Hülsmeyer war, bevor er sich zum Abendessen mit Linas Vater getroffen hatte, an Bord gewesen und hatte vergessen, die beiden kleinen Türen wieder zuzuschließen. Doch das war Ole jetzt einerlei. Mit einem schnellen Satz sprang er unbemerkt den Niedergang hinunter.
Nur Sekunden später jedoch hätte er sich dafür bereits ohrfeigen können.
»Da ist sie«, sagte eine Stimme auf dem Steg.
O nein, dachte Ole. Hülsmeyer!
»Kommen Sie an Bord, meine Herren!«
Ole merkte, wie sich das schmale Heck des Seekreuzers senkte und die vier Männer nacheinander über das Achterdeck an Bord kletterten. Am liebsten hätte er laut geflucht. Wie hatte er sich nur wieder in diese unmögliche Lage manövrieren können? Vorsichtig tastete er sich in der stockdunklen Kajüte nach vorne, möglichst weit vom hellen Rechteck des Niedergangs weg, bis er mit dem Rücken ans Vorschott anstieß.
Das erste Paar Stiefel stieg bereits ins Cockpit hinab, und das Schiebeluk über dem Niedergang wurde aufgeschoben.
Rasch öffnete Ole die Türe zum Vorschiff und drückte sich in die niedrige Vorpiek hinein. Im selben Augenblick, als er die Tür zuzog, erhellte ein Streichholz den Salon und eine Öllampe wurde entzündet. Ihr schwacher Lichtschein fiel durch die Ritzen der Tür. Instinktiv sah Ole sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Über der breiten Doppelkoje, die zum Bug hin V-förmig zulief und gleichzeitig als Stauraum für diverse Segelsäcke diente, befand sich das Vorluk. Wenn es nicht mit einem Schloss gesichert war, konnte er vielleicht hinausklettern, bevor sie ihn erwischten?
»Nice boat, Christian!«, hörte Ole den Vierten im Bunde sagen. Der Amerikaner, Loomis.
»Thank you, Alfred«, antwortete Hülsmeyer. »Please, take a seat.«
Die Männer schienen es sich um den kleinen Kajüttisch gemütlich zu machen. Sie hatten ihn also nicht bemerkt!
Ole atmete
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