Die Farbe des Himmels
bekommen hat. Ich weiß, wie sehr du sie beide gehasst haben musst, ihn und deine Schwester Antonia.
Ich hoffe, wir sehen uns bald, hier in Italien.
Deine Sofia
Thea faltete den Brief zusammen und sah durch die Verandatür auf die Hügelketten der Crete hinaus. Die Sonne stand jetzt tief, und Thea stellte fest, dass das Licht unvergleichlich war. Sie fühlte sich plötzlich wie von einer Last befreit, und sie wusste, das lag nicht allein am Licht der Toskana.
Sie stand auf, streckte sich und ging ins Wohnzimmer. Zuerst fiel ihr auf, dass es keinen Fernsehapparat gab. Dafür zog sich eine riesige Bücherwand über die Längsseite des Raums. Theas Blick wanderte fasziniert über die Regale. Hier würde sie notfalls überwintern können.
Auf dem Sideboard im hinteren Teil des Wohnzimmers stand ein alter Schallplattenspieler, der aussah, als sei er schon viele, viele Jahre nicht mehr in Betrieb gewesen. Thea trat näher. Seltsam, es gab gar keine Platten dazu.
Sie wollte sich gerade abwenden, um sich weiter im Zimmer umzusehen, als ihr Blick auf eine verstaubte, schwarze Scheibe fiel, die halb unter das Gerät geschoben war. Sie trat näher und zog sie heraus. Es war eine verkratzte Single. Theas Herz setzte einen Moment aus, als sie sich das Label ansah. Dann wischte sie sorgfältig den Staub von der Platte, legte sie auf den Plattenteller und setzte den Tonarm auf.
»Cerco l’estate tutto l’anno, e improvviso eccola qua …« Vor ihrem geistigen Auge sah Thea, wie die junge Sofia im bunten Kleid und Schuhen mit Pfennigabsätzen im Arm des um fünfunddreißig Jahre jüngeren Wolf Hauser über die Tanzfläche wirbelte.
»Quelle domeniche da solo in un cortile, a passeggi ar …«
Sie sah ein junges Mädchen mit den Zügen ihrer Mutter und angstgeweiteten Augen auf dem Rücksitz eines roten Ford Capri, den heißen, hechelnden Atem Wolf Hausers im Gesicht.
»Azzurro, il pomeriggio e troppo azzurro e lungo per me …«
Sie sah Antonia Linder tot in ihrem Blut liegen, weil sie dieser Mann mit den unwiderstehlichen blauen Augen hörig und fügsam gemacht hatte.
»II treno dei desideri nei miei pensieri all’incontrario va.«
Thea nahm den Tonarm ab, hob die Single vom Plattenteller und schmetterte sie mit voller Kraft auf den Steinboden. Die schwarze Scheibe war stabiler, als sie dachte und schien unverwüstlich zu sein. Erst beim dritten Versuch brach sie endlich mittendurch. Sie hob die beiden Teile auf und warf sie in den Mülleimer. Dann holte sie die angebrochene Flasche Chianti und ihr Glas und trug beides auf die Terrasse hinaus. Die Sonne berührte gerade den Horizont, und der Himmel leuchtete wie schmelzendes Gold. Thea setzte sich in einen Korbstuhl und las den Brief der Signora ein zweites Mal.
Der Chianti schmeckte himmlisch. Als sie sich das dritte Glas einschenkte, piepte im Haus ihr Handy.
Thea sprang auf, rannte los und stolperte über die Türschwelle, worauf sie der Länge nach hinschlug und sich das Knie aufschürfte. Ob ich jemals wieder ans Telefon gehen kann, ohne mich dabei zu verletzen, fragte sie sich, als sie nach dem Hörer griff.
»Du hattest Recht«, meldete sich Messmer ohne Umschweife. »Sie war es nicht. Der Vergleich mit der Spur am Briefbeschwerer ist eindeutig negativ. Thea? Hallo? Bist du dran?«
»Ja, ja, bin ich.« Sie atmete tief durch. Das Ergebnis überraschte sie keinesfalls, sie wusste es ja schon längst, aber es aus seinem Mund zu hören, war etwas ganz anderes. Sie hoffte, dass er weitersprach, aber er wartete anscheinend darauf, dass sie die Frage stellte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie schließlich hervorstieß: »Und was hat der Vergleich mit meiner DNA ergeben?«
»Positiv. Eine Verwandtschaft ersten Grades steht außer Zweifel.«
Thea ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Sie schluckte einige Male, bevor sie wieder reden konnte. »Wie geht es ihr?«
»Sie hat mehrere Bluttransfusionen bekommen und ist noch ziemlich schwach. Wenn sie in ein paar Tagen rauskommt, will sie den Nachlass ihrer Schwester regeln und die Urne beisetzen lassen.« Messmer zögerte. »Vielleicht möchtest du dabei sein? Antonia Linder war immerhin deine Tante.«
»Mal sehen.« Darüber wollte sie lieber später nachdenken.
»Sie hat geweint, als ich es ihr sagte.«
»Du hast es ihr erzählt?« Theas Stimme war nur ein Flüstern.
»Nicht nur das, ich habe ihr auch ein Foto von dir gezeigt. Das vom letzten Amtsausflug.«
»Oh nein, nicht das!
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