Die Farbe des Himmels
hätte sich auch gern verkrochen. Irgendwo, wo nichts und niemand sie erreichen konnte und wo sie diesen verdammten Brief nicht sah.
Als sie ihr Glas ausgetrunken hatte, war sie sicher, dass sie keine Minute länger mit diesem verschlossenen Kuvert im selben Zimmer sein konnte. Entweder sie ergriff schon wieder die Flucht, oder sie stellte sich ihrer Angst.
Es kam ihr fast wie ein Verrat vor, als sie den Umschlag vorsichtig öffnete und vier eng beschriebene Bögen herausnahm.
Die steile, energische Handschrift war schwierig zu lesen, und Thea brauchte eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt hatte, doch dann las sie immer hastiger, mit wachsender Unruhe, und ihr Herz begann schneller und schneller zu schlagen.
Mia cara Francesca!
Ich schreibe dir, weil ich etwas getan habe, wofür es keine Entschuldigung gibt. Ich habe mich schon vor langer Zeit der Kirche abgewandt, aber weil ich es einfach jemandem sagen muss, erzähle ich es dir. Wem sonst könnte ich so uneingeschränkt vertrauen?
Cara mia, ich wünschte, ich könnte behaupten, ich hätte es nur für dich getan. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, muss ich eingestehen, dass ich es mindestens genauso sehr für mich selbst tat.
Als du mich angerufen hast, nachdem du auf der Bank warst und im »Nannini« Dali begegnet bist, hast du eine Lawine losgetreten, die nicht mehr aufzuhalten war. Nein, es ist nicht deine Schuld! Niemand hat Schuld. Es kam einfach, wie es kommen musste.
Weißt du noch, wie wir uns damals im Sanatorium gegenseitig die Herzen ausschütteten? Ich erzählte dir von meinem Liebsten, mit dem ich so oft zu »Azzurro« tanzte. Und du erzähltest mir von dem Ekel, das dich vergewaltigt und geschwängert hat. Wir haben uns gegenseitig so viel Halt gegeben und haben einander blind vertraut. Aber eines haben wir nie getan: Wir haben niemals einen Namen genannt.
Du sprachst nur von »diesem Schwein« oder »diesem Ekel«, und ich sagte immer nur »der, der mir das Herz brach«.
Als du mich angerufen hast, um dich auszuweinen, sagtest du zum ersten Mal den Namen »Wolf Hauser«. Der Name schlug wie ein Blitz in mich ein. Mir wurde in einer einzigen Sekunde klar, dass dein »Ekel« und mein »Liebster« ein und dieselbe Person sind. Als ich dann noch hörte, dass er außerdem ein Verhältnis mit deiner Schwester Antonia hatte, und das seit Jahren, also schon zu der Zeit, als er mir die ewige Treue schwor, gab es für mich kein Halten mehr.
Ich fuhr mit dem Nachtzug direkt nach Stuttgart und weiß noch, dass ich am Zugfenster saß, in die sternenklare Nacht hinausschaute und dachte: Wie kann Gott einen so vollkommenen Himmel schaffen, wenn er gleichzeitig so viel Unglück zulässt?
In den frühen Morgenstunden kam ich in Stuttgart an und fuhr geradewegs zu seinem Haus. Ich dachte nicht daran, ihn zu töten, aber ich wollte ihm ins Gesicht sagen, dass er eine Ausgeburt der Hölle ist.
Als er mir die Tür öffnete, hatte er noch den Bademantel an und sein Haar stand wirr vom Kopf ab. Ich hatte ihn wohl geweckt. Wolf sah mich an, als sei ich ein Gespenst.
»Lass mich rein«, sagte ich, und ich glaube, er hatte mich nie zuvor so forsch und entschlossen erlebt. Das verwirrte ihn o ffenbar im ersten Moment so sehr, dass er zur Seite trat. Er führte mich wortlos in sein Büro. Ich nehme an, dass er es für das Vernünftigste hielt, eine verschmähte Geliebte in einem neutralen Raum zu empfangen.
Ich sagte ihm, was für ein gewissenloses Schwein er sei. Meine aufgestaute Verbitterung rauschte wie ein giftiger Sturzbach auf ihn herab.
Und er lachte!
Die Erinnerungen waren plötzlich wieder da, als wäre es gestern gewesen. Ich war wieder achtzehn und bis über beide Ohren in ihn verliebt. Ich war als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen und arbeitete als Schneiderin in einer seiner Partnerfirmen. Wir sahen uns zum ersten Mal auf einem Sommerfest der Firma. Es war das Jahr, in dem »Azzurro« ein Hit wurde. »Azzurro« – die Farbe seiner Augen. Azzurro – die Farbe des Himmels, den er mir versprach.
Auf diesem Fest hörte ich dieses Lied zum ersten Mal. Wir tanzten miteinander, und als er mich küsste, wusste ich, dieses Lied würde mich mein ganzes Leben lang begleiten und mein Schicksal besiegeln.
Es war eine traumhafte Zeit, die etwa zwei Jahre dauerte. Dann, von einem Tag auf den anderen, hörte ich nichts mehr von ihm. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Ich wusste natürlich, dass er bei der Firma Merkle arbeitete. Aber ich
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