Die Farbe des Todes: Ein Veronica-Sloan-Thriller (German Edition)
Höhle. Sie lugte in den langen schwarzen Tunnel hinein, der sich zu beiden Seiten erstreckte. Nur die etwa alle sechs Meter angebrachten Notausgangsleuchten mit ihren Pfeilen kämpften gegen die Finsternis an. Ihr Grün warf winzige Lichtflecken, jeder für sich eine kleine Oase auf dem nackten Beton. Ronnie zählte zwei auf der rechten und sechs auf der linken Seite. Die letzte Leuchte war von hier aus nur als kleiner Punkt auszumachen. Ronnie vermutete, dass sie ganz bis zum Notausgang am anderen Ende sehen konnte. Außer den grünen Flecken unterbrach nichts, aber auch gar nichts, die Monotonie der Leere.
Merkwürdig, wenn sie sich vorstellte, was in der Dunkelheit zwischen den Leuchten, in diesen sechs Meter breiten Räumen aus Schwärze, vielleicht nicht zu sehen war.
Als sie ein ganz schwaches Schlurfen hörte, legte sie den Kopf schräg und rief: »Hallo?«
Nichts.
»Ich bin Detective Veronica Sloan, D. C. P.D., Polizei Washington. Ist hier unten jemand?«
Wieder Stille.
Während Ronnie überlegte, ob das Geräusch vielleicht einfach von einer neu errichteten Mauer oder einem Balken stammte, die sich gesetzt hatten, passten ihre Augen sich weiter an die Dunkelheit an. Sie forschte nach einem Schatten, einer Form, die hier nicht hingehörte. Obwohl ihre Sinne ihr keine Anhaltspunkte dafür gaben, reagierte ihr Körper auf etwas. Ihre Nackenhaare sträubten sich, ihre Finger kribbelten. Unwillkürlich hatte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt, als rechne sie damit, plötzlich loszustürzen. Flucht? Oder Angriff?
Angriff, gar keine Frage. Ronnie war in ihrem ganzen Leben noch nie vor etwas weggelaufen. Außer vielleicht vor Beziehungen, wenn diese die emotionale Schranke zu überwinden drohten, die sie zwischen sich und ihren Mitmenschen errichtet hatte.
Sie entdeckte nichts, hörte auch nichts mehr, nicht die leiseste Bewegung in der Luft. Offenbar hatte die gruselige Atmosphäre hier unten ihrem Gehör einen Streich gespielt. Nachdem sich eine ganze Minute lang nichts gerührt hatte, ging sie schließlich zur Treppe zurück und setzte ihren langen Abstieg in die Eingeweide des Weißen Hauses fort.
Wenn das erste Untergeschoss ihr furchtbar leer erschienen war, dann war das zweite Untergeschoss vollkommen verlassen. Diese Flächen hier sollten für Lagerräume, Poststellen, Büros der Sicherheitsleute und zusätzlichen Büroraum genutzt werden, daher standen sie auf der Liste der fertigzustellenden Räume recht weit unten. Und nach der Entdeckung heute Morgen bezweifelte Ronnie, dass in absehbarer Zeit überhaupt Arbeiter hier heruntersteigen wollten.
Im Moment jedenfalls waren mit Sicherheit keine da.
Sie kam unten an und wandte sich nach links, dankbar, dass es auch hier Notausgangsleuchten gab. Ronnie hätte das Licht einschalten können, nackte Glühlampen, die überall von den Decken hingen, doch das wollte sie im Moment nicht. Sie wollte sich der Atmosphäre aussetzen, der Finsternis, in der es keine Sinnesreize gab. Sie wollte den leeren Raum spüren und die stehende Luft, wollte sich mit wachen Sinnen hindurchbewegen, um alle Eindrücke aufnehmen zu können, die Leanne Carr vielleicht gehabt hatte.
Da sie wusste, dass sie nach wenigen Schritten in das Absperrband rings um den Tatort laufen würde, zog sie ihre Taschenlampe aus dem Gürtel und schaltete sie ein. Die Mag-Lite warf einen starken Lichtstrahl, der die Schatten vertrieb. Grell und unerbittlich fiel er auf das leuchtend gelbe Band, die kleinen Spurentafeln und die schwachen roten Flecken auf dem Boden, wo man die netzartigen Blutspuren gefunden hatte. Leannes sterbliche Überreste waren natürlich entfernt worden, genauso wie das andere Beweismaterial, soweit das möglich gewesen war. Aber Ronnie sah alles noch vor sich, ganz deutlich erinnerte sie sich an die Lage jedes einzelnen Gewebeklumpens, jedes Knochens und jeder Sehne.
»Warum bist du hergekommen, Leanne?«, flüsterte sie, als sie unter dem Absperrband hindurchtauchte. »Du hast monatelang an der Vorbereitung dieser Veranstaltung mitgearbeitet, sie war dein Baby. Warum bist du dann ausgerechnet hier gewesen? Und nicht draußen, um dich an den Früchten deiner ganzen Arbeit zu erfreuen?«
Während der Vernehmung heute Nachmittag hatte Leannes Chef ausgesagt, er habe keine Ahnung, warum sie ins Weiße Haus gegangen sei. Er habe am Vormittag die letzten Worte mit ihr gewechselt und sich mit dem Hinweis verabschiedet, sie würden sich bei den Feierlichkeiten sehen. Kurz
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